Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
a) Zurechnungsrelevante Herrschaftsbefugnisse unbeweglicher WG/Prüfformel
Rn. 170
Stand: EL 142 – ET: 04/2020
Der wirtschaftliche Wert eines unbeweglichen WG wird entscheidend durch die Verfügungsmacht über dessen Substanz und Ertrag bestimmt (BGH v 06.11.1995, II ZR 164/94, NJW 1996, 458; BFH v 27.11.1996, X R 92/92, BStBl II 1998, 97 (zu Gebäuden auf fremdem Grund und Boden); BFH v 18.07.2001, X R 23/99, BStBl II 2002, 281 (zu Gebäuden auf fremdem Grund und Boden); BFH v 04.06.2003, X R 49/01, BStBl II 2003, 751 (zu Grundstücken)). Die tatsächliche Sachherrschaft über ein unbewegliches WG setzt – anders als etwa bei Anteilen an KapGes – zunächst (unmittelbaren/mittelbaren) Besitz voraus. Mit der (besitzunterlegten) tatsächlichen Verfügungsmacht über die Substanz einer Immobilie ist die Partizipation an Wertsteigerungen verbunden, mit der Verfügungsmacht über den Ertrag die laufende Nutzenziehung als wertbestimmende Positivelemente der Herrschaftsbefugnisse. Die Annahme tatsächlicher Sachherrschaft iSd § 39 Abs 1 Nr 1 AO über ein unbewegliches WG durch einen anderen als den zivilrechtlichen Eigentümer bedingt, dass der zivilrechtliche Eigentümer jedenfalls an der Ausübung der mit dem Eigentum typischerweise verbundenen, in positivem Sinne wertbestimmenden Herrschaftsbefugnisse, nämlich einerseits Besitz und laufende Nutzung sowie Verfügung über das WG, dh Veräußerung und Belastung andererseits, gehindert wird.
Den wertbestimmenden Positivelementen der Herrschaftsbefugnisse stehen Lasten- und Gefahrtragung als wertbestimmende Negativelemente gegenüber. Letztere manifestiert sich insb in der Partizipation an Wertminderungen des unbeweglichen WG und der Gefahrtragung des zufälligen Untergangs. Lasten und Gefahrtragung liegen typischerweise beim rechtlichen Eigentümer, eine Verlagerung erfordert entsprechend rechtlich bindende Vereinbarungen.
Prüfformel der Rspr: Nach den zu § 39 Abs 2 Nr 1 AO entwickelten Rspr-Grds ist für den Übergang wirtschaftlichen Eigentums an Grundstücken der Zeitpunkt maßgeblich, ab dem der Erwerber nach dem Willen der Vertragsparteien wirtschaftlich über das Grundstück verfügen kann (zB BFH v 02.10.1987, VI R 65/84, BFH/NV 1988, 86; BFH v 20.11.2011, IV R 35/08, BFH/NV 2012, 377). Zur Bestimmung dieses Zeitpunkts hat die Rspr die für unbewegliche WG wesentlichen wertbestimmenden und damit zurechnungsentscheidenden Kriterien zu einer Prüfformel für den Übergang wirtschaftlichen Eigentums an Grundstücken verdichtet. Nach st Rspr ist für den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an Grundstücken der Zeitpunkt entscheidend, von dem ab "Besitz, Gefahr, Nutzungen und Lasten" auf den Erwerber übergehen (zB BFH v 13.10.1972, I R 213/69, BStBl II 1973, 209; BFH v 29.11.1973, IV R 181/71, BStBl II 1974, 202; BFH v 28.04.1977, IV R 163/75, BStBl II 1977, 553; BFH v 02.05.1984, VIII R 276/81, BStBl II 1984, 820; BFH v 20.1.1987, IX R 147/83, BFH/NV 1987, 428; BFH v 02.10.1987, VI R 65/84, BFH/NV 1988, 86; BFH, 10.06.1988, III R 18/85, BFH/NV 1989, 348; BFH v 02.03.1990, III R 70/87, BStBl II 1990, 733; BFH v 07.11.1991, IV R 43/90, BStBl II 1992, 398; BFH v 25.01.1996, IV R 114/94, BStBl II 1997, 382; BFH v 28.03.2000, VIII R 77/96, BStBl II 2002, 227; BFH v 07.03.2001, X R 147/97, BFH/NV 2001, 1235; BFH v 04.06.2003, X R 49/01, BStBl II 2003, 75). Diese Prüfformel deckt sowohl die Positiv- als auch die Negativelemente der grundstückstypischen Herrschaftsbefugnisse kumulativ ab, sie konkretisiert indessen weder den für die Annahme vom zivilrechtlichen abweichenden wirtschaftlichen Eigentums nötigen Umfang insb der Nutzungsbefugnisse, noch hält sie Handlungsanweisungen für eine Gewichtung der Kriterien bereit. Bei nicht kumulativer Erfüllung rekurriert die Rspr vielmehr auf die erforderliche Würdigung des Gesamtbilds der wirtschaftlichen Verhältnisse im jeweiligen Einzelfall und lässt die Praxis mit einiger Rechtsunsicherheit zurück.
b) Positivelemente tatsächlicher Sachherrschaft
ba) Besitz
baa) Besitzerlangung durch Übergabe
Rn. 170a
Stand: EL 142 – ET: 04/2020
Der Besitz als – im Unterschied zu unkörperlichen WG wie Anteile an KapGes oder immateriellen WG – wesentliche Herrschaftsbefugnis an einem unbeweglichen WG wird durch Erlangung der tatsächlichen Gewalt über das WG erworben (§ 854 Abs 1 BGB). Die Erlangung des Besitzes kann durch Übergabe der Sache durch den bisherigen Besitzer erfolgen, bei Grundstücken auch durch Übergabe der Schlüssel (BGH v 30.05.1958, V ZR 295/56, NJW 1958, 1256; BFH v 17.12.2009, III R 92/08, BStBl II 2014, 190), eine einseitige Besitzergreifung durch den Erwerber mit Einverständnis des Übergebenden steht der Übergabe gleich (BGH v 10.01.1979, VIII ZR 302/77, NJW 1979, 714). Die Übergabe ist ein Realakt, dh "eine auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtete Willensbetätigung" (BFH 17.12.2009, III R 92/08, BStBl II 2014, 190). Die Besitzverschaffung kann als Realakt dem kaufvertraglich vorgesehenen Übergabezeitpunkt vor- oder nachgelagert sein. Für die Zurechnung entscheidend ist nicht die vertraglich vorgesehene, sondern die tatsächliche Übergabe (BFH v 17.12.2009, III R 92/08, BStBl II 2014, 190); von der formalen Vereinbarung eines vom Zei...