Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 412
Stand: EL 171 – ET: 02/2024
Das Realisationsprinzip ist gemäß § 5 Abs 1 EStG auch für die Steuerbilanz zu beachten. Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, mitunter der Leistungsfähigkeitsgedanke oder Lenkungsüberlegungen, nicht selten aber auch Aufkommenssicherungserfordernisse führen zu spezifisch steuerrechtlichen Modifikationen des Realisationsprinzips. So wird im Steuerrecht einerseits zT eine Gewinnrealisation ohne Umsatzakt gesetzlich angeordnet und damit eine Reihe unechter Realisationstatbestände geschaffen, andererseits aber trotz Umsatzakt keine Besteuerung vorgenommen, dh auf die Gewinnrealisation als solche oder auf die Besteuerung durch Umsatzakt realisierter stiller Reserven (temporär) verzichtet, indem Realisationswirkungen bilanziell oder außerbilanziell neutralisiert werden.
Rn. 413
Stand: EL 171 – ET: 02/2024
Gewinnrealisation ohne Umsatzakt (unechte Realisationstatbestände): Im Gegensatz zu echten Realisationstatbeständen beruhen unechte Realisationstatbestände nicht auf einem Verwertungsakt mit Zurechnungswechsel von WG, sondern auf gesetzlichen Anordnungen. Die Reichweite unechter Realisationstatbestände ist nach Aufgabe der finalen Entnahmetheorie durch den BFH (BFH vom 17.07.2008, I R 77/06, BStBl II 2009, 464, s Rn 235ff) begrenzt auf gesetzliche Einzeltatbestände. Unechte Realisationstatbestände führen Realisationswirkungen sowohl auf bilanzieller Ebene (zB Wertaufholung, § 6 Abs 1 Nr 1 S 4, Nr 2 S 3 EStG) als auch auf außerbilanzieller Ebene herbei (zB § 1 Abs 4, 5 AStG).
Die unechten Realisationstatbstände umfassen insbesondere die folgenden:
- Entstrickung stiller Reserven nach § 4 Abs 1 S 3, 4 EStG (s Rn 244ff), § 16 Abs 3a EStG, § 12 Abs 1 S 2 KStG (Ausschluss oder Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung eines WG) sowie nach § 50i EStG,
- Entnahme (§ 6 Abs 1 Nr 4 S 1 EStG),
- Wertaufholung (§ 6 Abs 1 Nr 1 S 4, Nr 2 S 3 EStG),
- Wechsel der Gewinnermittlungsart (§§ 5, 4 Abs 1 und Abs 3 EStG, § 13a EStG),
- Betriebsaufgabe (§ 16 Abs 3 EStG),
- Beginn/Erlöschen der Körperschaftsteuerbefreiung (§ 13 KStG),
- Zuordnungswechsel funktionellen (wirtschaftlichen) Eigentums an WG nach § 1 Abs 4, 5 AStG (Qualifikation von Innentransaktion zwischen Stammhaus und Betriebsstätte als fiktive Veräußerung),
- Wegzug wesentlicher beteiligter Anteilseigner (§ 6 AStG).
Rn. 414
Stand: EL 171 – ET: 02/2024
(Temporäre) Suspendierung der Realisation(swirkungen): Das Steuerrecht lässt mit § 6b EStG für Veräußerungsvorgänge sowie mit R 6.6 EStR 2012 für Fälle des Ausscheidens von WG infolge höherer Gewalt, dh für abschließend bestimmte Sachverhalte, die Übertragung stiller Reserven auf begünstigte andere WG mit ggf vorangehender steuerfreier Rücklagenbildung zu und gewährt trotz verwirklichten Realisationstatbestands einen Besteuerungsaufschub mit Subventionscharakter. Weitergehend wird steuerlich in bestimmten Fällen auf die Gewinnrealisation selbst verzichtet, wie im Fall der unentgeltlichen Betriebsübertragung nach § 6 Abs 3 EStG, die zwingend zu Buchwerten zu erfolgen hat.
Auch Umwandlungen können aus steuerlicher Sicht veräußerungsähnliche Vorgänge darstellen, die – vorbehaltlich der Regelungen des UmwStG – grundsätzlich zur Aufdeckung und Besteuerung der in dem übertragenen Vermögen enthaltenen stillen Reserven führen (Burmester, Probleme der Gewinn- und Verlustrealisierung, 329 (1986)). Um betriebswirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungen nicht durch nachteilige steuerliche Folgen zu behindern, ermöglicht das UmwStG abweichend vom Grundsatz der Realisation in Veräußerungs-/veräußerungsähnlichen Fällen in den vom Gesetz adressierten Fällen unter bestimmten Voraussetzungen eine steuerneutrale Übertragung. Mit dem steuerneutralen Übergang stiller Reserven wird – sofern die spätere Besteuerung sichergestellt ist – ein Besteuerungsaufschub bis zu einem nachfolgend verwirklichten Realisationstatbestand gewährt.