Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
ba) Systematisches Verhältnis: Inhaltsidentität
Rn. 597
Stand: EL 174 – ET: 08/2024
Das Verhältnis der Begriffe steuerrechtliches WG und handelsrechtlicher VG, hinter dem unmittelbar die Frage der Bedeutung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes (§ 5 Abs 1 EStG, s Rn 326ff) für die abstrakte Bilanzierungsfähigkeit steht, ist im Grundsatz klar, der Umgang mit dem Verhältnis durch Gesetzgeber und Steuer-Rspr gleichwohl bis heute konträr.
Die begriffliche Abweichung sollte im Ursprung verdeutlichen, dass "steuerrechtlich eine weitergehende Aktivierungspflicht als handelsrechtlich" bestehe (RFH v 27.03.1928, I A 470/27, RStBl 1928, 260; Moxter, Bilanzrechtsprechung, 8 (6. Aufl 2007)).
Im Zuge des StÄndG 1969 v 06.09.1965 (BGBl I 1965, 1089) formulierte der Gesetzgeber gleichwohl nachdrücklich die Bindung der Ansatzentscheidung in der StB an die in der HB durch § 5 Abs 1 EStG, demgemäß nach handelsrechtlichen GoB zur beurteilen ist, ob BV und damit auch dem Grunde nach ein WG vorliegt und die weiteren Voraussetzungen für dessen Aktivierung erfüllt sind (Begründung des RegE StÄndG 1969, BT-Drs V/3187, 3):
Zitat
"Was zu bewerten ist, dh ob ein bilanzierungsfähiges WG vorhanden ist, bestimmen die handelsrechtlichen GoB [...]. Dementsprechend haben Bilanzierungsvorschriften des Handelsrechts, die Ausdruck der [...] handelsrechtlichen GoB sind, unmittelbare Bedeutung."
§ 6 Abs 1 S 1 EStG idF des Gesetzes zur Änderung des EStG 1969, BGBl I 1969, 422:
Zitat
"Für die Bewertung der einzelnen WG, die nach [...] § 5 als BV anzusehen sind, gilt […]").
Nach dieser systematischen Grundwertung kann der steuerrechtliche Begriff des WG nicht weiter gehen als der handelsrechtliche Begriff des VG (vgl auch BFH v 26.02.1975, I R 72/73, BStBl II 1976, 13; Moxter, Bilanzrechtsprechung, 8 (6. Aufl 2007)).
Beide Begriffe werden durch die GoB in gleicher Weise geprägt (BFH v 07.08.2000, GrS 2/99, BStBl II 2000, 632), woraus mehrheitlich das Erfordernis der Inhaltsidentität der Begriffe VG und WG abgeleitet wird (vgl BFH v 02.03.1970, GrS 1/69, BStBl II 1970, 382; BFH v 26.10.1987, GrS 2/86, BStBl II 1988, 348; BFH v 07.08.2000, GrS 2/99, BStBl II 2000, 623 mwN:
Zitat
"Der Begriff WG […] ist eine Zweckschöpfung des Steuerrechts. Allerdings wirkt der Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs 1 EStG auch auf den Begriff WG ein. Danach setzt jedes WG voraus, dass es auch nach den handelsrechtlichen GoB auszuweisen ist. Deshalb stimmen die Begriffe ‚VG’ und ‚WG’ inhaltlich überein"
(BFH v 21.09.2004, IX R 36/01, BStBl II 2006, 12; ebenso zB Westerfelhaus, DB 1985, 885; Wichmann, DB 1988, 192; Schön, FR 1994, 662; A/D/S, § 246 HGB Rz 14 mwN (6. Aufl 1998); Moxter, Bilanzrechtsprechung, 8 (6. Aufl 2007); Müller-Gatermann, Ubg 2019, 21; Tiedchen in H/H/R, § 5 EStG Rz 553ff (12/2021); Lutz/Schlag in HdJ, II/1 Rz 39 (02/2022); K/S/M, § 5 Rz B 91 (08/2020); aA Costede, StuW 1995, 116; Mujkanovic, BB 1994, 895; Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 8 Rz 3; Wassermeyer, GmbHR 2000, 1111) – und zwar Inhaltsidentität entsprechend des Maßgeblichkeitsgrundsatzes mit dem materiell-rechtlichen Inhalt des VG.
Mit der sprachlichen Differenzierung zwischen VG und WG für die aktiven Bilanzierungseinheiten im Handels- und Steuerbilanzrecht ist folglich keine inhaltliche Differenzierung verbunden.
bb) Praktisches Verhältnis: Abweichung
Rn. 598
Stand: EL 174 – ET: 08/2024
Trotz des klaren, in der Frage der abstrakten Aktivierungsfähigkeit keinen Raum für Abweichungen in systematischer Hinsicht belassenden Verhältnisses von VG- und WG-Begriff, werden im Handels- und Steuerbilanzrecht abweichende Kriterien für die abstrakte Aktivierungsfähigkeit zur Anwendung gebracht.
Selbstständige Verwertbarkeit als (strengeres) handelsrechtliches Aktivierungskriterium:
Die Aktivierungsfähigkeit eines Gutes setzt nach handelsrechtlich hM – abweichend vom steuerlichen, durch die BFH-Rspr geprägten Kriterienkatalog – neben der bilanziellen Greifbarkeit dessen selbstständige Verwertbarkeit voraus (vgl zB Lamers, Aktivierungsfähigkeit und Aktivierungspflicht immaterieller Werte, 207 (1981); Fabri, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung entgeltlicher Nutzungsverhältnisse, 48ff (1986); Marx, BB 1994, 2382; A/D/S, § 246 HGB Rz 26–28 (6. Aufl 1998); v Keitz, Immaterielle Güter in der internationalen Rechnungslegung, 31 (1997); Lutz/Schlag in HdJ, II/1 Rz 3 (02/2022)).
Dem Kriterium der selbstständigen Verwertbarkeit gingen abweichende Konkretisierungsvorschläge voraus (Überblick bei A/D/S, § 246 HGB Rz 15ff (6. Aufl 1998)). Nach dem Kriterium der konkreten Einzelveräußerbarkeit ist ein Gut dann abstrakt aktivierungsfähig, wenn es allein im Rechtsverkehr übertragen werden kann, dh selbstständig veräußerbar ist. Güter, die aufgrund eines gesetzlichen oder vertraglichen Veräußerungsverbots nicht veräußert werden dürfen oder mangels (potenzieller) Abnehmer nicht veräußert werden können, wären demnach keine VG. Da auf dieser Grundlage in § 266 Abs 2 A I 1 HGB als VG erfasste Güter nicht als solche aktiviert werden dürften (nicht einzelveräußerbare immaterielle Güter, zB entgeltlich erworbenes Nießbrauchsr...