Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
ca) Grundsatz der Wesentlichkeit
Rn. 407
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Nach Maßgabe des Grundsatzes der Wesentlichkeit können unbedeutende Einflussgrößen für Bilanzansatz, Bewertung und Ausweis vernachlässigt, verkürzt oder verdichtet werden, wenn es unverhältnismäßig und deshalb unzumutbar wäre, durch zeit- und kostenintensive Arbeiten Informationen zu generieren, die den JA nur wenig beeinflussen (Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 182 (7. Aufl 1987); Winnefeld, Bilanz-HB, Kap D Rz 395 (5. Aufl 2015); Marx, FR 2011, 268). Im Vordergrund steht damit die Abwägung von Informationsnutzen und Wirtschaftlichkeitserwägungen. Für die Verbesserung des Informationsgehalts von Jahresabschlussdaten ist nur so viel Aufwand zu betreiben, wie Informationen zur Wahrung der schutzwürdigen Interessen von Jahresabschlussadressaten von Bedeutung sind (Baetge/Zülch in HdJ, Abt I/2 Rz 64 (Februar 2022)). Informationen sind dann nicht wesentlich, wenn im Fall ihres Weglassens auf der Basis des Abschlusses zu treffende Entscheidungen der Abschlussadressaten nicht beeinflusst werden (IDW PS 250 nF v 12.12.2012, WPg Supplement 1/2013, 2, Rz 8; Hirschberger/Leuz, DB 2012, 2529f).
Der Wesentlichkeitsgrundsatz ist im deutschen Bilanzrecht nicht explizit kodifiziert, wird aber allgemein als GoB anerkannt (Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 180ff (1987); Scheffler in FS Baetge 2007, 505, 510; Wendt in FS Herzig, 2010, 517, 519; Marx, FR 2011, 267, 268; Hirschberger/Leuz, DB 2012, 2529, 2530; Naumann/Breker/Siebler/Weiser in HdJ, Abt I/7 Rz 58 (April 2013); Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2014, 2731). Die Richtlinie 2013/34/EU v 26.06.2013 bestimmt in Art 6 Abs 1 Buchst j: "Die Anforderungen in dieser Richtlinie in Bezug auf Ansatz, Bewertung, Darstellung, Offenlegung und Konsolidierung müssen nicht erfüllt werden, wenn die Wirkung ihrer Einhaltung unwesentlich ist"; Art 6 Abs 4 der Richtlinie gestattet den Mitgliedstaaten, den Anwendungsbereich des Abs 1 Buchst j auf Darstellung (dh Ausweisfragen) und Offenlegung zu beschränken.
Mit dem BilRUG wurden allerdings keine Folgerungen aus den Wesentlichkeitsvorgaben der Bilanzrichtlinie gezogen. Der Wesentlichkeitsgrundsatz findet nach wie vor (lediglich) in verschiedenen gesetzlichen Einzelregelungen zum Ausweis sowie zur Bewertung seinen Ausdruck. Über den Maßgeblichkeitsgrundsatz gilt der Wesentlichkeitsgrundsatz auch für die steuerliche Gewinnermittlung (vgl BFH v 18.03.2010, X R 20/09, BFH/NV 2010, 1796). Über die konkrete Reichweite und die Grenzen des Wesentlichkeitsgrundsatzes im Steuerrecht besteht keine Einigkeit.
Der Wesentlichkeitsgrundsatz trägt Verhältnismäßigkeits- und Informationsnutzenerwägungen Rechnung, kollidiert in Ansatzfragen aber insbesondere mit dem Vollständigkeitsgebot, steuerlich darüber hinaus potenziell mit der zutreffenden Leistungsfähigkeitsmessung. Wesentlichkeitsfragen stellen sich auf Ansatz-, Bewertungs- und Ausweisebene (vgl Wendt in FS Herzig, 518ff (2010).
Rn. 407a
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Wesentlichkeit in Ausweisfragen: Insbesondere Ausweisfragen sind deutlich wesentlichkeitsgeprägt. Gliederungs-/Ausweiserleichterungen gemäß §§ 266 Abs 1 S 3, 276, 288 HGB für mittelgroße und kleine KapGes iS § 267 HGB gehen vor allem auf das Bestreben zurück, die Rechnungslegung wirtschaftlich zu halten (Baetge/Zülch, HdJ Abt I/2 Rz 64 (Februar 2022)). Besonders deutlich wird der Stellenwert des Wesentlichkeitsgrundatzes in Einzelregelungen zu Angaben im Anhang zum JA von KapGes (vgl Wendt in FS Herzig, 519f (2010)). Diese führen
- sowohl zum Verzicht auf Anhangangaben, die aufgrund ihrer Größenordnung ohne Einfluss auf das Ergebnis sind (Bsp § 286 Abs 3 S 1 HGB (Entfall der Pflichtangaben zu Schachtelbeteiligungen, wenn für die Darstellung der Vermögens-/Finanz-/Ertragslage von untergeordneter Bedeutung)),
- ebenso wie zum Erfordernis ergänzender Anhangangaben (Bsp § 268 Abs 4 S 2 HGB (Erläuterung von Beträgen größeren Umfangs), § 284 Abs 2 Nr 3 HGB (Erläuterung, wenn Gruppenbewertung erheblich vom Börsen-/Marktpreis zum Bilanzstichtag abweicht), § 285 S 1 Nr 3 HGB (Angaben zu nicht in der Bilanz enthaltenen Geschäften, soweit für die Beurteilung der Finanzlage notwendig), § 285 S 1 Nr 3a HGB (Angaben zu sonstigen finanziellen Verpflichtungen, soweit für die Beurteilung der Finanzlage von Bedeutung); § 285 S 1 Nr 4 HGB (Aufgliederung der Umsatzerlöse soweit sich Tätigkeitsbereiche/geografisch bestimmte Märkte erheblich unterscheiden), § 285 S 1 Nr 12 HGB (Erläuterung unter sonstigen Rückstellungen zusammengefasster Positionen von nicht untergeordneter Bedeutung)).
Im Steuerrecht werden wesentlichkeitsbestimmte Gliederungserleichterungen in Bilanz und GuV durch die Taxonomievorgaben der FinVerw zur E-Bilanz (§ 5b EStG) faktisch untergesetzlich aufgehoben und in Ausweisfragen Informationsbedürfnisse der FinVerw über Wesentlichkeits-/Wirtschaftlichkeitsaspekte der Rechnungslegung gestellt.
Rn. 407b
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Wesentlichkeit in Bew...