Rn. 39
Stand: EL 158 – ET: 06/2022
Das Betriebsstätten-FA hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung – hier § 42d Abs 3 EStG – auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten, § 5 AO. Nach BFH BStBl II 1974, 756 ist die Frage, ob der ArbG vor dem ArbN in Anspruch genommen werden darf, im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu entscheiden. Dabei ist von dem gesetzgeberischen Zweck des LSt-Verfahrens auszugehen, nämlich durch den Abzug an der Quelle den schnellen Eingang der LSt sicherzustellen. Nach BFH BStBl II 1993, 169 ist aber die Inanspruchnahme des ArbG als Haftungsschuldner idR ermessensfehlerhaft, wenn die Steuer beim ArbN deshalb nicht nachgefordert werden kann, weil seine Veranlagung zur ESt bestandskräftig ist und die für eine Änderung des Steuerbescheids nach § 173 Abs 1 Nr 1 AO erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen (Änderung der Rspr zu BFH BStBl II 1974, 756). Es gibt keinen Grundsatz, dass zunächst der ArbN als Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen ist (BFH BStBl III 1959, 292). Das FA muss bei Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens die Grundsätze
- der Gleichmäßigkeit der Besteuerung,
- der Verhältnismäßigkeit der Mittel,
- der Erforderlichkeit,
- der Zumutbarkeit,
- der Billigkeit,
- das Willkür- und Übermaßverbot sowie
- den Grundsatz von Treu und Glauben beachten.
- Des Weiteren ist der Grundsatz der Zweckmäßigkeit von Bedeutung.
Die Frage, ob das FA von seinem Ermessen den richtigen Gebrauch gemacht hat, ist eine Rechtsfrage, die die FG von Amts wegen nachzuprüfen haben (BFH BStBl III 1959, 292). Die Prüfung richtet sich nach § 102 FGO. Danach ist insbesondere zu prüfen, ob die gesetzlich gezogenen Grenzen des Ermessens eingehalten wurden, ob also ein Fall der Ermessensunterschreitung, Ermessensüberschreitung oder des Ermessensfehlgebrauchs gegeben ist. Werden erstmals während des Revisionsverfahrens Ermessenserwägungen angestellt, können diese im Revisionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden (BFH BFH/NV 2005, 171; BStBl II 2013, 737).
Die Inanspruchnahme des ArbN für nicht einbehaltene und abgeführte LSt durch ESt-Bescheid oder LSt-Nachforderungsbescheid ist keine Ermessensentscheidung (BFH BStBl II 1985, 660; BFH/NV 2016, 1540; Krüger in Schmidt, § 42d Rz 16, 40. Aufl; aA Eisgruber in Kirchhof/Seer, § 42d Rz 27 mwN, 20. Aufl). Dies gilt mE auch für den LSt-Nachforderungsbescheid gegenüber dem ArbN (aA BFH BStBl II 1992, 43 unter II.2.; FG Bre v 21.10.2020, 1 V 82/20 (5)). Denn eine solcher Nachforderungsbescheid gegenüber dem Steuerschuldner ist eine Steuerfestsetzung iSd § 155 AO, die eine gebundene Entscheidung ist. Die Regelung des § 42d Abs 3 S 2 EStG ist daher einschränkend auf die in § 42d EStG insoweit allein geregelte Haftung des ArbG bezogen. Dem Betriebsstätten-FA soll vorgeschrieben werden, ein entsprechendes Ermessen auszuüben. Dem ArbN ist damit insoweit auch der Einwand versagt, vorrangig sei der ArbG als Haftender in Anspruch zu nehmen: § 42d Abs 3 S 2 EStG ist nicht einschlägig (BFH BFH/NV 2016, 1540 zum Veranlagungsverfahren); der ArbN kann sich auch nicht auf § 42d Abs 3 S 4 EStG berufen, da § 42d Abs 3 S 4 EStG nicht den Grundsatz des § 38 Abs 2 S 1 EStG einschränkt, wonach der ArbN Schuldner der LSt ist (s BFH BStBl II 1985, 660).
Als Steuerschuldner kann der ArbN somit stets in Anspruch genommen werden, wenn die LSt nicht richtig einbehalten worden ist. Ermessenserwägungen, ob eventuell der ArbG in Anspruch genommen werden soll, muss das Wohnsitz-FA iRd Steuerfestsetzungsverfahrens nicht anstellen (BFH BStBl 1985, 660).