1. Grundsatz
Rn. 37
Stand: EL 158 – ET: 06/2022
Darüber, ob der ArbG oder ArbN in Anspruch genommen werden soll, hat das FA von Amts wegen zu entscheiden; der Verwaltungsbehörde steht ein Ermessensspielraum zu, BFH BStBl II 1969, 406 und st Rspr, zB BFH BStBl II 1982, 801. § 42d Abs 3 S 2 EStG räumt dem Betriebsstätten-FA ein Auswahl- und Entschließungsermessen ein. Das FA kann die Haftungs- oder Steuerschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) gegenüber jedem Gesamtschuldner festsetzen. Es kann daher auch den ArbN als Steuerschuldner in Anspruch nehmen. Dies gilt nur für die LSt. Die Veranlagung zur ESt ist dagegen eine gebundene Entscheidung und keine Ermessensentscheidung (BFH BStBl II 1985, 660). Das FA hat das ihm eingeräumte Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO).
- Es hat auf der ersten Stufe zu prüfen, ob es überhaupt einen Haftungsbescheid erlassen will (Entschließungsermessen).
- Auf der zweiten Stufe hat es zu entscheiden, wen es in Anspruch nehmen will (Auswahlermessen).
Die Ermessensentscheidung kann jedoch vorgeprägt sein. Bei einer vorsätzlichen Pflichtverletzung ist eine solche Vorprägung anzunehmen (BFH BStBl II 2004, 919; 2009, 478; BFH/NV 2007, 1822). Sie ist besonders gegeben bei einer Steuerstraftat (FG Ha v 18.12.2015, 2 K 281/14).
Diese Vorprägung gilt auch im Verhältnis Geschäftsführer und ArbG, so dass ohne weitere Ermessenserwägungen ein Haftungsbescheid gegen den Geschäftsführer (nach §§ 34, 69 AO) erlassen werden kann, wenn dieser vorsätzlich handelte. Soweit der Wortlaut des § 42d Abs 3 S 2 EStG die Annahme nahe legt, dass dem FA die freie Auswahl eingeräumt sein sollte, kann dies jedenfalls nur unter Berücksichtigung der Ermessensgrenzen nach § 5 AO gelten. Die nachstehend dargestellten Rspr-Grundsätze sind als Ermessensbindung zu beachten.
2. ArbG und ArbN als Gesamtschuldner (§ 42d Abs 3 S 1 EStG)
Rn. 38
Stand: EL 158 – ET: 06/2022
Gemäß § 42d Abs 3 S 1 EStG sind der ArbG und der ArbN Gesamtschuldner, soweit die Haftung der ArbG reicht. Nach § 44 Abs 1 S 2 AO schuldet jeder Gesamtschuldner die gesamte Leistung. Die Leistung des einen befreit auch den anderen Schuldner. Das Gleiche gilt auch für die Aufrechnung und für eine geleistete Sicherheit (§ 44 Abs 2 S 1 u 2 AO). Andere Tatsachen wirken nur für und gegen den Gesamtschuldner, in dessen Person sie eintreten (§ 44 Abs 2 S 3 AO).
Der ArbN bleibt auch insoweit Schuldner der LSt, als er nach § 42d Abs 3 S 4 EStG als Gesamtschuldner nicht in Anspruch genommen werden kann.
3. Haftung anderer Personen
Rn. 38a
Stand: EL 158 – ET: 06/2022
Neben der Inanspruchnahme des ArbG und des ArbN kommen als Haftungsschuldner weitere Personen in Betracht. So sind in die Ermessensausübung insbesondere auch die Geschäftsführer nach §§ 34, 69 AO, die Verfügungsberechtigten nach §§ 35, 69 AO, insbesondere der faktische Geschäftsführer, der Steuerhinterzieher bzw der Teilnehmer an einer Steuerhinterziehung nach § 71 AO und der Betriebsübernehmer nach § 75 AO einzubeziehen. Eine Haftung dieser Personen ist jedoch nur dann in die Ermessenserwägungen aufzunehmen, wenn eine Haftung dieser Personen tatbestandlich feststeht. Ggf hat daher die FinVerw vor der Ermessensausübung den Sachverhalt vollumfänglich aufzuklären bzw ihrer Ermittlungspflicht nachzukommen (BFH BFH/NV 2002, 610; Gersch in Klein, AO, 14. Aufl 2020, § 5 Rz 4; Nacke, Haftung für Steuerschulden 4. Aufl 2017, Rz 9.80; dies gilt im Übrigen nicht nur für Fragen betreffend des Entschließungs- und Auswahlermessens des FA ieS, sondern auch für das Vorliegen bestimmter Tatbestandsmerkmale der Haftungsvorschrift (BFH BFH/NV 1997, 386; FG Ha v 04.03.2014, 3 K 175/13).
4. Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 42d Abs 3 S 2 EStG)
Rn. 39
Stand: EL 158 – ET: 06/2022
Das Betriebsstätten-FA hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung – hier § 42d Abs 3 EStG – auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten, § 5 AO. Nach BFH BStBl II 1974, 756 ist die Frage, ob der ArbG vor dem ArbN in Anspruch genommen werden darf, im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu entscheiden. Dabei ist von dem gesetzgeberischen Zweck des LSt-Verfahrens auszugehen, nämlich durch den Abzug an der Quelle den schnellen Eingang der LSt sicherzustellen. Nach BFH BStBl II 1993, 169 ist aber die Inanspruchnahme des ArbG als Haftungsschuldner idR ermessensfehlerhaft, wenn die Steuer beim ArbN deshalb nicht nachgefordert werden kann, weil seine Veranlagung zur ESt bestandskräftig ist und die für eine Änderung des Steuerbescheids nach § 173 Abs 1 Nr 1 AO erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen (Änderung der Rspr zu BFH BStBl II 1974, 756). Es gibt keinen Grundsatz, dass zunächst der ArbN als Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen ist (BFH BStBl III 1959, 292). Das FA muss bei Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens die Grundsätze
- der Gleichmäßigkeit der Besteuerung,
- der Verhältnismäßigkeit der Mittel,
- der Erforderlichkeit,
- der Zumutbarkeit,
- der Billigkeit,
- das Willkür- und Übermaßverbot sowie
- den Grundsatz von Treu und Glauben beachten.
- Des Weiteren ist der Grundsatz der Zweck...