Rn. 77
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Nach § 48a Abs 3 S 2 EStG haftet der Leistungsempfänger nicht, wenn ihm im Zeitpunkt der Gegenleistung eine Freistellungsbescheinigung vorgelegen hat, auf deren Rechtmäßigkeit er vertrauen konnte. Zum Begriff des Leistungsempfängers s § 48 Rn 66ff (Wienbergen). Zum Begriff der Gegenleistung s § 48 Rn 125ff (Wienbergen). Wegen des "Zeitpunkts der Gegenleistung" s § 48 Rn 145ff (Wienbergen). Zu den Einzelheiten der "Freistellungsbescheinigung" s § 48b Rn 67ff (Wienbergen). Kernaussage des § 48a Abs 3 S 2 EStG ist, dass der Leistungsempfänger Vertrauensschutz in Anspruch nehmen darf, wenn ihm v Leistenden vor der Erbringung der Gegenleistung eine Freistellungsbescheinigung vorgelegt worden ist, die den äußeren Anschein der Rechtswirksamkeit erweckt.
Rn. 78
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Grundvoraussetzung für die Frage, ob Vertrauensschutz in Anspruch genommen werden kann, ist, dass die vorgelegte Freistellungsbescheinigung für die fragliche Gegenleistung keine Wirksamkeit entfaltet. Ist die Freistellungsbescheinigung wirksam, braucht der Leistungsempfänger keinen Steuerabzug vorzunehmen (§ 48 Abs 2 S 1 EStG). Dann greift auch der Haftungstatbestand gemäß § 48a Abs 3 S 1 EStG nicht ein, weil keine gesetzliche Steuerabzugsverpflichtung besteht, die der Leistungsempfänger verletzt haben kann.
Rn. 79
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Daher ist der Wortlaut des § 48a Abs 3 S 2 EStG dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass der Leistungsempfänger nicht auf die "Rechtmäßigkeit" sondern auf die "Rechtswirksamkeit" der Freistellungsbescheinigung vertrauen können musste. Ist die Freistellungsbescheinigung zwar erteilt worden, aber materiell-rechtlich rechtswidrig, besteht für den Leistungsempfänger dennoch keine Pflicht zum Einbehalt des Steuerabzugsbetrags.
Behält er wegen einer rechtswirksamen Freistellungsbescheinigung keinen Steuerabzugsbetrag ein, ist der Haftungstatbestand nicht eröffnet. Auf die Frage des Vertrauensschutzes gemäß § 48a Abs 3 S 2 EStG kommt es deshalb nur an, wenn die Freistellungsbescheinigung
- nie wirksam geworden ist (zB Fälschungen),
- ihre Wirksamkeit vor der Erbringung der Gegenleistung verloren hat (Rücknahme oder Widerruf gemäß §§ 130, 131 AO),
- ihre Wirksamkeit rückwirkend – auch für den Zeitpunkt der Gegenleistung – durch Rücknahme gemäß § 130 AO verloren hat.
Das zuständige FA muss daher eine rechtswirksame Freistellungsbescheinigung zunächst entweder vor dem Zeitpunkt der Erbringung der Gegenleistung gemäß §§ 130, 131 AO aufheben oder die rechtswidrige Freistellungsbescheinigung mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen (§ 130 Abs 2 AO), bevor sich die Frage eines etwaigen Vertrauensschutzes stellt.
Rn. 80
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Eine dem Leistungsempfänger vorgelegte Freistellungsbescheinigung kann nur dann Vertrauensschutz erzeugen, wenn sie
- nach ihrem Inhalt den Leistungsempfänger für die fragliche Gegenleistung von der Steuerabzugsverpflichtung des § 48 Abs 1 S 1 EStG befreit,
- mit einem Dienstsiegel versehen ist,
- eine Sicherheitsnummer trägt.
Der Leistungsempfänger muss die vorgelegte Freistellungsbescheinigung bezüglich dieser Merkmale überprüfen (Tz 72 BMF BStBl I 2022, 1229; aA Fuhrmann, KÖSDI 2001, 13 093). Bei Vorlage einer Fotokopie müssen alle Angaben auf der Kopie lesbar sein (Apitz, StBp 2002, 322). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Vergewisserung ist grds der Zeitpunkt der Erbringung der Gegenleistung.
Legt der Leistende eine Freistellungsbescheinigung vor, die für einen längeren Zeitraum gilt, besteht keine Verpflichtung zu einer regelmäßigen Überprüfung der vorhandenen Freistellungsbescheinigung (Tz 72 BMF BStBl I 2022, 1229; OFD Münster v 25.02.2002, S 2303–2-St 13–31, BB 2002, 1469 Abschnitt I). Dagegen soll eine erhöhte Prüfungspflicht bestehen, wenn der Zeitpunkt der Ausstellung der vorgelegten Freistellungsbescheinigung bereits länger zurückliegt (Bruschke, StB 2002, 130).
Rn. 81
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Vorbehaltlich atypischer Konstellationen (vgl § 48a Abs 3 S 3 EStG: "insbesondere") entfällt das durch die scheinbar rechtsgültige Freistellungsbescheinigung erzeugte Vertrauen (s Rn 80), wenn der Leistungsempfänger im Zeitpunkt der Erbringung der Gegenleistung
- Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der fehlenden Rechtswirksamkeit der Freistellungsbescheinigung hatte (im Einzelnen s Rn 82) oder
- Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Freistellungsbescheinigung aus schwerwiegenden Gründen, die in der Sphäre des Leistenden liegen, hatte und die Freistellungsbescheinigung im Zeitpunkt der Erbringung der Gegenleistung noch nicht aufgehoben war (im Einzelnen s Rn 83ff).
Rn. 82
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Dem Leistungsempfänger gebührt kein Vertrauensschutz, wenn ihm im Zeitpunkt der Erbringung der Gegenleistung bekannt ist oder infolge von grober Fahrlässigkeit nicht bekannt ist, dass
- die vorgelegte Freistellungsbescheinigung nie wirksam geworden ist (zB Fälschungen, vgl Tz 75 BMF BStBl I 2022, 1229) oder
- die vorg...