Rn. 29
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Die Voraussetzungen für die Erteilung der Freistellungsbescheinigung sind nicht erst dann erfüllt, wenn die zu sichernden Steueransprüche objektiv nicht gefährdet sind, sondern schon dann, wenn sie "nicht gefährdet erscheinen". Daher muss nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, dass die zu sichernden Steueransprüche nicht gefährdet sind (FG D'dorf v 22.08.2002, 14 K 1418/02 E, EFG 2002, 1604; Ebling in Brandis/Heuermann, § 48b EStG Rz 27 (Mai 2021)). Die bewusst offene Formulierung beruht auf dem Umstand, dass Gefährdungsbeurteilungen immer prognostische Elemente beinhalten, die ein Stück weit Unsicherheit in den Subsumtionsvorgang hineintragen. Die Rspr (BFH I B 147/02, BStBl II 2003, 716) prüft nicht positiv, ob die zu sichernden Steueransprüche nicht gefährdet erscheinen, sondern negativ, ob sie gefährdet erscheinen. Danach ist entscheidend, ob
- nach dem Gesamtbild der Verhältnisse
- die Befürchtung gerechtfertigt erscheint,
- dass die rechtzeitige und vollständige Erfüllung des durch das Abzugsverfahren gesicherten Steueranspruchs
- durch die Erteilung der Freistellungsbescheinigung gefährdet werden könnte.
Rn. 30
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
ME lässt sich aus der Gesetzesformulierung kein Beurteilungsspielraum des FA ableiten. Ein Beurteilungsspielraum des FA würde zu einer verminderten gerichtlichen Kontrolldichte führen, die – ähnlich wie bei der Überprüfung auf Ermessensfehler – verhindern würde, dass das Gericht eine andere Einschätzung der Gefährdungslage an die Stelle der Beurteilung des FA setzen könnte, solange das FA die Grenzen des Beurteilungsspielraums beachtet hat (sog Einschätzungsprärogative).
Das Vorhandensein von prognostischen Elementen im Subsumtionsvorgang lässt nicht automatisch auf eine Beurteilungsermächtigung schließen. Eine solche liegt erst dann vor, wenn die Entscheidung wegen einer vom Gericht nicht leistbaren fachlich-subjektiven Beurteilungskompetenz ausdrücklich der Behörde zugewiesen ist. Ein solcher Erfahrungsvorsprung der FinVerw ist bei der Beurteilung der Gefährdungslage der zu sichernden Steueransprüche nicht ersichtlich, so dass es bei der Letztentscheidungskompetenz der Gerichte verbleibt (ebenso: BFH I B 147/02, BStBl II 2003, 716; FG Nds v 18.04.2002, 6 V 55/02, EFG 2002, 842, aus anderen Gründen aufgehoben: BFH I B 86/02, BFH/NV 2003, 166; wohl auch: FG Bln v 21.12.2001, 8 B 8408/01, EFG 2002, 330; Fuhrmann, KÖSDI 2003, 13 771; aA Oellerich in Bordewin/Brandt, § 48b EStG Rz 14 (Dezember 2019); Ebling, DStR 2001, Beihefter zu Heft 51/52; Schroen, NWB Fach 3, 11 683: Ermessensentscheidung). Dem FA ist vielmehr zuzumuten, die für seine Einschätzung maßgeblichen Tatsachen dem Gericht darzulegen, so dass das Gericht eine umfassende Abwägung vornehmen kann.
Rn. 31
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
§ 48b Abs 1 S 2 EStG nennt im Rahmen einer Aufzählung Regelbeispiele, bei denen eine Gefährdung "insbesondere in Betracht kommt". Aus der Formulierung lassen sich zwei Aussagen ableiten:
- Erstens kann der Anschein der fehlenden Gefährdung auch dann entfallen, wenn andere Sachverhaltsgestaltungen verwirklicht werden, die nicht von den Regelbeispielen in § 48b Abs 1 S 2 EStG abgedeckt werden.
- Zweitens ist es nicht zwingend, dass beim Vorliegen der genannten Regelbeispiele der Anschein einer Gefährdung der zu sichernden Steueransprüche tatsächlich vorliegt (Oellerich in Bordewin/Brandt, § 48b EStG Rz 7 (Dezember 2019); aA Ebling in Brandis/Heuermann, § 48b EStG Rz 21 (Mai 2021): stets Gefährdung).
Es kommt vielmehr auf die umfassende Würdigung der Gesamtumstände an (FG D'dorf v 22.08.2002, 14 K 1418/02 E, EFG 2002, 1604). Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist insbesondere darauf abzustellen, wie lange das steuerliche Fehlverhalten zurückliegt und ob aus diesem Fehlverhalten auf ein Fehlverhalten in der Gegenwart und Zukunft geschlossen werden kann (vgl FG Nds v 18.04.2002, 6 V 55/02, EFG 2002, 842, aus anderen Gründen aufgehoben: BFH I B 86/02, BFH/NV 2003, 166; FG Münster v 02.08.2002, 2 V 1006/02 E).
Rn. 32
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vorläufig frei
ba) Nichterfüllung von Anzeigepflichten
Rn. 33
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Nach § 48b Abs 1 S 2 Nr 1 EStG kommt eine Gefährdung der zu sichernden Steueransprüche in Betracht, wenn Anzeigepflichten nach § 138 AO nicht erfüllt werden. Nach § 138 Abs 1 S 1 AO ist die Eröffnung oder Verlegung eines gewerblichen Betriebs oder einer Betriebsstätte auf einem amtlich vorgeschriebenen Vordruck der Gemeinde mitzuteilen. Die Pflicht gilt für Leistende aus dem Ausland also dann, wenn sie im Inland zumindest eine Betriebsstätte iSv § 12 AO eröffnen. Die Meldung muss innerhalb eines Monats erfolgen (§ 138 Abs 4 AO). Die Gemeinde informiert dann unverzüglich das zuständige FA (§ 138 Abs 1 S 1 Hs 2 AO). Erfolgt die erforderliche Anzeige nicht, besteht die Gefahr, dass die steuerliche Erfassung des Betriebs oder der Betriebsstätte unterbleibt. Dadurch können ESt-, KSt- oder LSt-Ansprüche des Staates gefährdet werden.
Rn. 34
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Dennoch muss...