Rn. 164
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die erste Ebene der gemeinschaftsrechtlichen Kollisionsvorschriften bildeten die Zuständigkeitsregelungen gemäß Art 13ff VO (EWG) Nr 1408/71. Die Zuständigkeitsregeln sollten bewirken, dass auf die vom persönlichen und sachlichen Geltungsbereich Betroffenen grds die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anzuwenden sind, BFH v 31.03.2008, III B 132/07, BFH/NV 2008, 1151; vgl auch BVerfG v 08.06.2004, 2 BvL 5/00, BFH/NV 2005, Beilage 1, 33. Allerdings hat der EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen des BFH v 21.10.2010, III R 5/09, BFH/NV 2011, 360 entschieden, dass die Versagung von Differenzkindergeld wegen vergleichbarer Ansprüche in anderen EU-Staaten bei denjenigen Personen, die nach § 62 EStG deshalb anspruchsberechtigt sind, weil sie im Inland unbeschränkt stpfl sind, gegen die ArbN-Freizügigkeit des AEUV (EuGH v 12.06.2012, C-612/10 – Wawrzyniak) verstößt. Diese Auslegung des AEUV ist bindend. Die sich aus den §§ 62ff EStG ergebende Anspruchsberechtigung entfiel somit nicht dadurch, dass eine Person gemäß Art 13 ff der VO (EWG) Nr 1408/71 nicht den deutschen Rechtsvorschriften, sondern nur den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats der EU unterlag. Zwar war Deutschland in diesem Fall an sich der unzuständige Staat, gleichwohl wurde der sich aus § 62 Abs 1 Nr 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen.
Die Art 13ff VO (EWG) Nr 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, die Anspruchsberechtigung richtete sich deshalb auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr 1408/71 unterlagen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts (vgl dazu BFH v 16.05.2013, III R 8/11, BStBl II 2013, 1040; BFH v 05.09.2013, XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33; BFH v 30.01.2014, V R 38/11, BFH/NV 2014, 837 unter Aufgabe der früheren gegenteiligen Auffassung).
Art 12 Abs 2 VO (EWG) Nr 1408/71 bestimmte, dass die Antikumulierungsvorschriften eines Mitgliedstaats einem Berechtigten gegenüber auch dann Anwendung finden, wenn es sich bei den (konkurrierenden) Leistungen um solche handelte, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworben wurden. Die Vorschrift enthielt eine Gleichstellung fremdmitgliedstaatlicher mit innerstaatlichen Leistungen. Die Vorschrift kam gerade dann zum Tragen, wenn die nationale Antikumulierungsvorschrift auf rein innerstaatliche Leistungsansprüche begrenzt war, BFH v 16.07.2015, III R 39/13, BFH/NV 2016, 277. Art 12 Abs 2 VO (EWG) Nr 1408/71 war nach der Rspr des EuGH (Urt des EuGH v 15.09.1983, C-279783) jedoch nur dann einschlägig, wenn der Anspruch auf die zu beschränkende Leistung – hier der Kindergeldanspruch – erst aufgrund der Anwendung der Vorschriften der VO (EWG) Nr 1408/71 entstanden war, BFH v 16.07.2015, III R 39/13, BFH/NV 2016, 277.
Rn. 165
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Während bei ArbN grds das Recht des Beschäftigungslandes Vorrang vor dem Recht des Wohnsitzstaates hatte (Art 13 Abs 2 Buchst a (EWG) VO Nr 1408/71), war bei Selbstständigen grds das Recht des Wohnsitzstaates vorrangig vor dem Recht des Tätigkeitsstaates anzuwenden (Art 13 Abs 2 Buchst b VO (EWG) Nr 1408/71). Die sich die nach Art 13 Abs 2 Buchst b VO (EWG) Nr 1408/71 anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften für die Gewährung von Kindergeld richteten sich nach dem Land der tatsächlichen Beschäftigung, BFH v 05.07.2012, III R 76/10, BStBl II 2013, 1033. Eine Sonderregelung für entsandte ArbN fand sich in Art 14 VO (EWG) Nr 1408/71.
Rn. 166
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Der EuGH hat in seinem Urt in der Rechtssache "Bosmann", EuGH v 25.05.2008, C 352/06, EuGHE I 2008, 3827, entschieden, dass Art 13 Abs 2 Buchst a VO (EWG) Nr 1408/71 in ihrer durch die VO (EG) Nr 647/2005 geänderten Fassung, wonach eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann unterliegt, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, im Licht des Art 42 EG (Art 48 AEUV) auszulegen ist. Da diese Regelung die Freizügigkeit der ArbN erleichtern solle, dürften Wander-ArbN nicht deshalb – im Wohnsitzstaat – Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten, weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben. Deshalb greifen die Zuständigkeitsregelung in Art 13ff VO (EWG) Nr 1408/71 dann nicht ein, wenn im Beschäftigungsland des ArbN kein Leistungsanspruch besteht (zB weil das Kind eine im Beschäftigungsstaat geltende Altersgrenze überschreitet) und es somit nicht zu einer Kollision von Leistungsansprüchen kommt. In diesen Fällen bleibt das Recht des Wohnsitzstaats somit anwendbar, mit der Folge, dass ein Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass zwar grds das Recht des Beschäftigungslandes anzuwenden wäre, sich danach jedoch im konkreten Fall kein Leistungsanspruch ergibt.
Rn. 167
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Nach FG Münster ...