Rn. 105
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die Regelungen über die Zuständigkeitszuweisungen, die sich aus den Art 11ff der VO (EG) Nr 883/2004 ergeben, dienen dazu, dass die vom sachlichen und persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) Nr 883/2004 erfassten Fälle grds nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats unterliegen, BFH v 31.03.2008, III B 132/07, BFH/NV 2008, 1151 zu Art 13 Abs 1 VO (EWG) Nr 1408/71. Dadurch wird vermieden, dass mehrere Leistungsansprüche zusammentreffen, Wendl in H/H/R, § 65 EStG Rz 8 (Juni 2020). Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt bereits dann vor, wenn einer der beiden Kindergeldberechtigten im Inland und der andere im EU/EWR-Ausland lebt, EuGH v 14.10.2010, C-16/09 (Schwemmer). Allerdings ergibt sich nach der Rspr des EuGH in den Rechtssachen Bosmann sowie Hudzinki/Wawrzyniak keine Sperrwirkung hinsichtlich der Anwendung der §§ 62ff EStG, ausführlich s Rn 11.
Wird der Anspruchsteller nicht vom Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71 erfasst, weil er nicht in einem Sozialversicherungssystem versichert ist, ist der Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht für ein im EU-Ausland lebendes Kind nach § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG ausgeschlossen, wenn für das Kind ein Anspruch auf ausländische Leistungen besteht, die dem Kindergeld vergleichbar sind, BFH v 13.11.2014, III R 1/13, BStBl II 2018, 394.
Rn. 106
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Auf Erwerbstätige finden gemäß Art 11 Abs 3 Buchst a VO (EG) Nr 883/2004 die Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedsstaats Anwendung, in dem sie eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben. Art 1 Buchst a VO (EG) Nr 883/2004 definiert als Beschäftigung jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedsstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Für das Vorliegen einer Beschäftigung iSd Art 1 Buchst a VO (EG) Nr 883/2004 kommt es – anders als für die Anwendung der Art 73ff VO (EWG) Nr 1408/71 – nicht auf das Bestehen einer Versicherungspflicht an, Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Einführung vor Art 67 VO Nr 883/2004 Rz 48 (Dezember 2017). Als Beschäftigung ist deshalb jede nichtselbstständige Arbeit anzusehen und geringfügige Beschäftigungen iSd § 8, 8a SGB IV.
Als selbstständige Erwerbstätigkeit wird durch Art 1 Buchst b VO (EG) Nr 883/2004 jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation definiert, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedsstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Insoweit existiert im deutschen Recht keine gesetzliche Regelung, aus der sich ergibt, unter welchen Voraussetzungen eine selbstständige Erwerbstätigkeit anzunehmen ist. Es handelt sich um eine gewerbliche oder selbstständige Tätigkeit, die sich nicht als völlig untergeordnet oder unwesentlich darstellt, Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Einführung vor Art 67 VO (EG) Nr 883/2004 Rz 49 (Dezember 2017); BFH v 04.02.2016, III R 16/14, BFH/NV 2016, 911.
Rn. 107
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Art 11 Abs 2 S 1 der VO (EG) Nr 883/2004 bestimmt, dass bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen wird, dass sie diese Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit ausüben; zu Arbeitslosengeld I nach § 117 SGB III vgl BFH v 28.04.2016, III R 40/12, BFH/NV 2016, 1469. Dies gilt nach Art 11 Abs 2 S 2 VO (EG) Nr 883/2004 allerdings nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheiten, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken. Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, unterliegen – vorbehaltlich der Art 12–16 VO (EG) Nr 883/2004 – den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dh des Beschäftigungsstaats. Unterliegt ein Selbstständiger dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71, steht ihm aufgrund des Art 49 AEUV (Ausübung der Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit der Selbstständigen) ein Anspruch auf Differenzkindergeld auch dann zu, wenn Deutschland nach Art 13ff der VO (EWG) Nr 1408/71 der für die Gewährung der Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat ist und die Konkurrenz zu den im EU-Ausland gewährten Familienleistungen nach § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG zu lösen sein sollte, BFH v 04.02.2016, III R 17/13, BStBl II 2016, 612; BFH v 16.07.2015, BFH/NV 2016, 277.
Unterliegen beide Anspruchsberechtigte den Regelungen ihres jeweiligen Wohnsitzstaats, ergibt sich nach Art 11 Abs 3 Buchst a der VO (EG) Nr 883/2004 der vorrangige Anspruch nach den Regelungen, die aufgrund des Wohnortes des Kindes gelten (Art 68 Abs 2 S 1 iVm Art 68 Abs 1 S 1 Buchst b Ziffer i der VO (EG) Nr 883/2004; FG Münster v 27.08.2013, 13 K 2409/11 Kg, EFG 2013, 1944). I...