Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung des Zugangsfaktors bei "vorzeitiger" Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung trotz Leistungsverbesserungen durch das RVLVG weiterhin verfassungsgemäß
Orientierungssatz
Die Bestimmungen des § 77 Abs 2 S 1 Nr 3 und S 2 SGB 6 sind nicht durch das RVLVG verfassungswidrig geworden (vgl LSG Stuttgart vom 7.3.2018 - L 2 R 284/18).
Nachgehend
Tatbestand
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. Januar 2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Der Kläger wendet sich gegen die Absenkung des Zugangsfaktors bei der Berechnung seiner Rente wegen Erwerbsminderung.
Der Kläger ist in 1964 geboren. Er ist bei der Beklagten rentenversichert. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg verurteilte die Beklagte mit rechtskräftigem Urteil vom 16. März 2016 (L 2 R 1479/14) in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 25. April 2016, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. Mai 2014 bis 30. April 2017 zu gewähren. Die Beklagte bewilligte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 31. Mai 2016 Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Mai 2014 bis 30. April 2017. Sie legte dabei einen Zugangsfaktor von 0,892 Punkten zu Grunde (Zugangsfaktor 1,0 abzüglich Faktor 0,003 x 36 Kalendermonate). Mit Bescheid vom 5. Januar 2017 bewilligte die Beklagte die Rente weiter bis zum 30. April 2020.
Gegen den Bescheid vom 31. Mai 2016 erhob der Kläger am 1. Juli 2016 Widerspruch. Er wende sich gegen den „versicherungsmathematischen Abschlag“. Durch das Inkrafttreten des Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz vom 23. Juni 2014, BGBl. I S. 787) zum 1. Juli 2014 sei bewiesen, dass eine Notlage nicht mehr bestehe und damit der Eingriff in die Rentenanwartschaft in Form des versicherungsmathematischen Abschlages gegen Art. 14 Grundgesetz (GG) verstoße.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2016 zurück. Bei einem Rentenbeginn im Jahr 2014 würden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 63. Lebensjahres und acht Monaten um einen Abschlag gemindert. Dieser Abschlag bestimme sich über den Zugangsfaktor. Der Zugangsfaktor von 1,0 werde um 0,3 Prozent pro Monat der Inanspruchnahme der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres und acht Monaten, höchstens jedoch um 10,8 Prozent gemindert. Der Kläger habe zum Rentenbeginn am 1. Mai 2014 das Lebensalter von 60 Jahren und acht Monaten noch nicht vollendet. Der Zugangsfaktor sei deshalb um 10,8 Prozent auf 0,892 gekürzt worden. Die Minderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrente sei Gegenstand mehrerer sozialgerichtlicher Verfahren und zweier Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gewesen. Das BVerfG habe entschieden, dass die Minderung des Zugangsfaktors mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Hiergegen erhob der Kläger am 30. August 2016 Klage. Aus dem Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 558/09) ergebe sich, wann ein Eingriff in die nach Art. 14 GG geschützten Rentenanwartschaften und Rentenansprüche zulässig sei und wann nicht. Hieraus ergebe sich, dass nur die finanzielle Notsituation der gesetzlichen Rentenversicherung den Eingriff in die Anwartschaften gerechtfertigt habe. Der Eingriff sei erforderlich gewesen, weil die Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung schlecht gewesen sei. Falle die Notlage weg, werde der geschmälerte Zugangsfaktor bzw. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI automatisch verfassungswidrig und der Dauerrentenbescheid schlittere somit sozusagen in die Verfassungswidrigkeit ab 1. Juli 2014. Es sei nämlich durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz zum 1. Juli 2014 bewiesen, dass die Rentenversicherung eine Notlage nicht mehr aufweise. Anders wäre es nicht zu erklären, dass man Gesetze verabschiede, die der Rentenversicherung sechs Milliarden Mehrausgaben im Jahr verursachten. Wer so etwas tue, wisse, dass eine Notlage nicht mehr gegeben sei und die entsprechende Presseberichterstattung in den Medien bestätige dies ja auch. Wer so viel Geld zur Verfügung habe, übersehe, dass es an der Erforderlichkeit eines Eingriffs in die Rentenanwartschaft mangele. Die Kürzung der Zugangsfaktoren und die versicherungsmathematischen Abschläge seien zum 1. Juli 2014 eigentlich schon mit den Beratungen über das Gesetz im Herbst 2013 nicht mehr erforderlich gewesen. Es gehe im vorliegenden Fall auch nicht darum, dem Gesetzgeber vorschreiben zu wollen, eine Einsparung in anderen Bereichen des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung erzielen zu können, sondern hier gehe es darum, dass der Gesetzgeber statt einer die Rentenversicherung belastenden Ge...