Unterschied zwischen Entstehen und Ausübung: Mit der ersten Frage – die vermutlich aus deutscher Sicht am interessantesten war – wollte das rumänische Gericht wissen, ob ein Unterschied zwischen dem Zeitpunkt der Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug und dem der Ausübung dieses Rechts bestehe und ob das Recht auf Vorsteuerabzug bei Fehlen einer (gültigen) steuerlichen Rechnung des Lieferanten ausgeübt werden könne.
Vorhergehende Entscheidungen: In Beantwortung dieser Frage wiederholte der EuGH die in früheren Urteilen bereits dargestellten Grundsätze des Vorsteuerabzugs. Für den Vorsteuerabzug gebe es materielle und formelle Voraussetzungen.
Materielle Voraussetzungen (Entstehen des Vorsteuerabzugsrechts): Aus materieller Sicht müsse der Betroffene ein Steuerpflichtiger sein, der die bezogenen Leistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwende und die Leistungen müssten von einem anderen Steuerpflichtigen erbracht werden. Das gelte sowohl für den Vorsteuerabzug im Veranlagungsverfahren als auch – mit weiteren Spezifizierungen – für die Erstattung im Vorsteuervergütungsverfahren. Mit der Erfüllung dieser Voraussetzungen ist das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden.
Formelle Voraussetzungen (Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts): Aus formeller Sicht gebe es für den Vorsteuerabzug bzw. für den Antrag auf Vorsteuervergütung nur die Anforderung, dass der Steuerpflichtige eine Rechnung besitzen müsse. Diese Anforderung muss erfüllt sein, um das materiell-rechtlich entstandene Recht ausüben zu können.
Versagung nur im Ausnahmefall: Das (Grund-)Prinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer bedinge, dass der Vorsteuerabzug bzw. die Mehrwertsteuererstattung auch dann gewährt werde, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt seien, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt habe. Eine Versagung des Vorsteuerabzugs soll nach Auffassung des EuGH (nur) dann in Betracht kommen, wenn (trotz Vorliegens der materiellen und formellen Voraussetzungen) der Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird oder wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden.
Keine zusätzlichen Anforderungen: Aus dem letztgenannten Aspekt folgert der EuGH, dass die Verwaltung, wenn sie über die erforderlichen Angaben verfüge, keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen dürfe, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug oder auf Mehrwertsteuererstattung vereiteln könnten.
Ergebnis: Schlussendlich folgert der Gerichtshof, wie bereits in diversen früheren Entscheidungen, im vorliegenden Urteil vom 21.10.2021 aus den Grundsätzen seiner ständigen Rechtsprechung, dass der Steuerpflichtige zwar den Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer im Vergütungsverfahren nicht geltend machen könne, wenn er keine Rechnung über den Erwerb der betreffenden Gegenstände besitze. Ein Dokument, das der Steuerpflichtige vorlege, sei aber nur dann nicht als Rechnung in diesem Sinne anzusehen, wenn es so fehlerhaft sei, dass den Finanzbehörden die zur Begründung des Erstattungsantrags erforderlichen Angaben fehlten.