Leitsatz
Ein erst nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids gestellter Antrag auf Abzug von Unterhaltsleistungen im Wege des Realsplittings ist kein rückwirkendes Ereignis, wenn die Zustimmungserklärung des Unterhaltsempfängers dem Geber bereits vor Eintritt der Bestandskraft vorlag (Abgrenzung vom Senatsurteil vom 12.7.1989, X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957).
Normenkette
§ 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO
Sachverhalt
Der Kläger lebte im Streitjahr 2007 bereits seit mehreren Jahren von seiner Ehefrau dauernd getrennt. Er leistete ihr Barunterhalt, den das FA in den Vorjahren als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG berücksichtigte. Die letzte Zustimmungserklärung der Ehefrau datiert vom 30.12.2009. In der ESt-Erklärung 2007 wurden versehentlich weder in den elektronisch übermittelten Daten noch in den per Post übersandten Unterlagen Unterhaltsleistungen als Sonderausgaben geltend gemacht. Das FA veranlagte erklärungsgemäß. Der Bescheid wurde nicht angefochten. 2010 beantragte der Kläger die Änderung des Bescheids dahingehend, dass die Unterhaltsleistungen als Sonderausgaben abgezogen werden. Das FA lehnte den Änderungsantrag ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (FG Münster, Urteil vom 5.9.2012, 12 K 1948/11 E, EFG 2012, 2183).
Entscheidung
Der BFH hat die Revision des Klägers ebenfalls als unbegründet zurückgewiesen. Das FG habe – aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen – zu Recht eine Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO verneint.
Hinweis
1. Wird dem Steuerpflichtigen durch Gesetz ein Wahlrecht eingeräumt, dessen Ausübung keiner ausdrücklichen zeitlichen Begrenzung unterliegt, ergibt sich eine solche Begrenzung nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gleichwohl durch das allgemeine verfahrensrechtliche Institut der Bestandskraft. Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung Ausnahmen gemacht, die in aller Regel dadurch gekennzeichnet sind, dass zumindest bei einer übergreifenden Betrachtung noch keine vollständige Bestandskraft eingetreten war.
2. Eine solche Ausnahmekonstellation lag dem Urteil vom 12.7.1989, X R 8/84 (BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957) zugrunde. Der BFH hat hier das Realsplitting auch für den Fall bejaht, dass erst nach Eintritt der Bestandskraft des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids sowohl die Zustimmung des Empfängers der Unterhaltsleistungen erteilt als auch der Antrag des Gebers gestellt wurde. Die Rückwirkung des rechtsgestaltenden Antrags beruhte auf der Erwägung, dass die erforderliche Zustimmung des Empfängers in typischen Fällen erst nachträglich erteilt werde. Daher bestand das Bedürfnis, eine schon bestandskräftig gewordene Regelung an die nachträgliche Änderung des Sachverhalts anzupassen.
Grundlage für die höchstrichterliche Einschätzung war die damalige Rechtslage, nach der die Zustimmung des Empfängers keine Dauerwirkung hatte, sondern für jeden Veranlagungszeitraum erneut erteilt werden musste, was ein nochmaliges – nicht immer konfliktfreies – Zusammenwirken des Unterhaltspflichtigen mit seinem geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten zur Erlangung der Zustimmung bedingte.
Demgegenüber hat die Zustimmung des Empfängers seit 1990 grundsätzlich Dauerwirkung (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG); ein Widerruf hat nur Wirkung für Kalenderjahre, die nach dem Widerruf beginnen. Damit kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Zustimmung typischerweise erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums erteilt wird. Infolgedessen besteht in einem solchen Fall jedenfalls dann kein Bedürfnis für eine bestandskraftdurchbrechende Rückwirkung allein des Antrags, wenn die Zustimmungserklärung dem Geber im Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft des ursprünglichen Bescheids tatsächlich bereits vorliegt.
3. Ein Widerspruch zur finanzgerichtlichen Rechtsprechung, wonach für die Besteuerung des Empfängers der Unterhaltsleistungen der Antrag des Gebers unabhängig vom Zeitpunkt der Zustimmung des Empfängers ein rückwirkendes Ereignis darstellt (vgl. FG Köln, Urteil vom 27.4.1995, 2 K 3854/94, EFG 1995, 893), besteht nicht. Im Hinblick auf die zutreffende Besteuerung des Empfängers besteht weiterhin ein Bedürfnis an der Rückwirkung des – nicht von diesem, sondern von dem Geber als Dritten gestellten – Antrags. Ansonsten würde die im Gesetz angelegte materiell-rechtliche Korrespondenz zwischen dem Sonderausgabenabzug beim Geber und der Versteuerung als sonstige Einkünfte beim Empfänger bei einer bestimmten zeitlichen Abfolge von Zustimmung, Veranlagung und Antrag verfahrensrechtlich vereitelt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.8.2014 – X R 33/12