OFD Niedersachsen, Verfügung v. 4.10.2010, S 0351 - 77 - St 144
(Rechtslage bis 31.12.2008)
Werden dem FA nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung vom Steuerpflichtigen bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, gilt Folgendes:
1. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung nach § 173 AO
Die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge stellen neue Tatsachen i.S. des § 173 AO dar, die zur Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO führen, wenn sich durch die Erfassung der Kapitalerträge eine geänderte (höhere) Einkommensteuerschuld ergibt und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Die Steuerfestsetzung ist auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt (AEAO zu § 173, Nr. 1.4).
2. Anrechnung der Kapitalertragsteuer
Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugsbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt („Anrechnungsverfügung”) dar, der nur unter den Voraussetzungen der §§ 129 bis 131 AO korrigiert werden kann.
Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung zur nachträglichen Berücksichtigung von Kapitalertragsteuer ist nur innerhalb der durch die Anrechnungsverfügung in Lauf gebrachten Zahlungsverjährungsfrist zulässig (BFH-Urteil vom 12.2.2008, BStBl 2008 II S. 504, und vom 27.10.2009, BStBl 2010 II S. 382). Das Institut der Zahlungsverjährung soll im Erhebungsverfahren dafür sorgen, dass nach Ablauf einer angemessenen Frist endgültig Rechtssicherheit darüber einkehrt, was der Stpfl. aufgrund der Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung anzurechnender Vorauszahlungen und Abzugsteuern noch zu zahlen hat bzw. was ihm zu erstatten ist.
Die von nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträgen einbehaltene Kapitalertragsteuer kann somit nur innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist – durch Korrektur der Anrechnungsverfügung zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 130 Abs. 1 AO – nachträglich berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn die betreffenden Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können.
Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen – unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge – den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb – bei Vorlage der Steuerbescheinigung – die Kapitalertragsteuer auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.
3. 5- bzw. 10-jährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)
Mit der gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf 5 bzw. 10 Jahre verlängerten Festsetzungsfrist soll es dem durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch noch nach Ablauf von 4 Jahren zurückzufordern. Sinn und Zweck des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO bestehen jedoch nicht darin, den Steuerhinterzieher in die Lage zu versetzen, Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren. Die Anwendung der verlängerten Festsetzungsfrist setzt deshalb voraus, dass ein Anspruch des Fiskus auf eine Abschlusszahlung wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht realisiert werden konnte. An einem hinterzogenen Betrag i.S. von § 169 Abs. 2 Satz 2 AO fehlt es aber, wenn die geschuldete Einkommensteuer durch Steuerabzug (z.B. Abführung von Kapitalertragsteuern) bereits erhoben war und seitens des Steuergläubigers nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung bestand (BFH-Urteil vom 26.2.2008, BStBl 2008 II S. 659).
In Fällen der nachträglichen Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ist für die Anwendung der verlängerten Festsetzungsfrist deshalb erforderlich, dass sich auch nach Berücksichtigung dieser Anrechnungsbeträge ein erhöhter Steueranspruch (Abschlusszahlung) ergibt.
Soweit sich der Steueranspruch hiernach, z.B. durch nachträgliche Berücksichtigung von Kapitalertragsteuern, ermäßigt, verlängert sich die Frist nicht. In dieser Fallkonstellation verbleibt es wegen der bereits eingetretenen Festsetzungsverjährung bei der bisherigen ...