Zugleich Anmerkung zum Urteil des BFH v. 6.9.2023 – I R 35/20
[Ohne Titel]
Susanne Thonemann-Micker, LL.M., RAin/FAinSt / Charmaine Vossen, RAin
Die Wegzugsbesteuerung des § 6 AStG bezweckt insb. die Sicherstellung der Besteuerung der stillen Reserven von im Privatvermögen befindlichen wesentlichen Anteilen (Anteile von 1 % und mehr) an Kapitalgesellschaften bei Wegzug des inländischen Gesellschafters ins Ausland. Die Wohnsitzverlegung wird insofern der Veräußerung einer Beteiligung gleichgestellt, so dass i. Erg. im Zeitpunkt des Wegzugs ein fiktiver Veräußerungsgewinn ohne tatsächliche Gewinnrealisierung der Besteuerung unterworfen wird. Das Pendant für (größenunabhängige) Anteile an Personengesellschaften ist die Entstrickungsbesteuerung nach § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG, auf die nachfolgend nicht näher eingegangen wird.
Die Wegzugsteuer des § 6 AStG mit ihren u.U. weitreichenden finanziellen Folgen hält nicht selten einen Gesellschafter von einem Wegzug ins Ausland ab. Aufgrund dessen bestehen bereits seit Jahren europarechtliche Bedenken gegen die deutsche Wegzugsbesteuerung des § 6 AStG, mit dem sich der EuGH bereits 2019 in der Rechtssache Wächtler (EuGH v. 26.2.2019 – C-581/17 – Wächtler, ECLI:EU:C:2019:138, EStB 2019, 117 [Weiss]) betreffend die Schweiz ebenso wie mit dem mit der Schweiz bestehenden Freizügigkeitsabkommen näher befasst hat.
Der BFH wiederum hat – in der nationalen Fortsetzung des Falls Wächtler – zuletzt mit Urteil vom 6.9.2023 (I R 35/20, BFH/NV 2024, 302 = ISR 2024, 95 [Binnewies/Mehlhaf]), veröffentlicht am 11.1.2024, bzgl. § 6 AStG in der bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung (nachfolgend "AStG a.F."; Fassung gilt gem. § 21 Abs. 3 Satz 1 AStG erst für Wegzüge ab dem 1.1.2022) für Wegzüge in die Schweiz hinsichtlich der bestehenden unionsrechtlichen Einwände für weitere Rechtsklarheit in der nationalen Anwendung gesorgt. So hat der BFH entschieden, dass die i.R.d. § 6 AStG a.F. entstehende Wegzugsteuer zwar festzusetzen ist, aber gleichzeitig durch obiter dictum festgehalten, dass den vom EuGH im Urteil Wächtler verbindlich formulierten Vorgaben dadurch Rechnung zu tragen ist, dass die in § 6 AStG a.F. für Wegzüge in die Schweiz nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteilsveräußerung andauernde Stundung bis zum Veräußerungszeitpunkt von Amts wegen zu gewähren ist.
Der nachfolgende Beitrag setzt sich mit der Entwicklung der Wegzugsbesteuerung und dem Inhalt des BFH-Urteils auseinander und beleuchtet die Auswirkungen dieser Entscheidung auf die aktuelle Fassung des § 6 AStG (Fassung m.W.v. 1.7.2021 für Wegzugsfälle ab dem 1.1.2022), die unabhängig vom Wegzugstaat lediglich eine auf Antrag und i.d.R. nur gegen Sicherheitsleistung zu gewährende Stundung in sieben gleichen Jahresraten vorsieht.
1. Grundlagen der Wegzugsbesteuerung
§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 AStG stellt die Besteuerung stiller Reserven in Beteiligungen an inländischen und ausländischen Kapitalgesellschaften i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, also bei Beteiligungen von 1 % und mehr, sicher, wenn eine natürliche Person, die innerhalb der letzten zwölf Jahre insgesamt mindestens sieben Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgibt und dadurch ihre unbeschränkte Steuerpflicht beendet. Die Wohnsitzverlegung wird folglich der Veräußerung einer Beteiligung gleichgestellt, und ein sachlicher Anknüpfungspunkt für die Besteuerung wird fingiert. Der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht stehen die unentgeltliche Übertragung von Kapitalgesellschaftsanteilen auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AStG) und der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG) gleich.
Die daraufhin festgesetzte Steuer kann gem. § 6 Abs. 4 Sätze 1, 2 AStG auf Antrag des Steuerpflichtigen (Stpfl.) und i.d.R. nur gegen Sicherheitsleistung in sieben gleichen Jahresraten entrichtet werden.
Im Fall einer nur vorübergehenden Abwesenheit entfällt die Wegzugsteuer gem. § 6 Abs. 3 AStG rückwirkend, und eine bereits gezahlte Steuer ist zu erstatten, wenn der Stpfl. innerhalb von sieben Jahren (mit Verlängerungsmöglichkeit um weitere fünf Jahre) wieder in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig wird. Bei einem Wegzug mit Rückkehrabsicht besteht darüber hinaus auf Antrag die Möglichkeit, dass auf die Entrichtung der Jahresraten verzichtet werden kann und die Wegzugsteuer somit bis zur Rückkehr, jedoch i.d.R. auch nur gegen Sicherheitsleistung, zinslos gestundet wird. Wenn der Stpfl. jedoch in diesem Fall nicht nach Deutschland zurückkehrt, und die Steuer folglich nicht nach § 6 Abs. 3 AStG entfällt, wird für die Dauer des gewährten Zahlungsaufschubs gem. § 6 Abs. 4 Satz 8 AStG eine Verzinsung angeordnet.
2. Rechtsentwicklung und Hintergrund der BFH-Entscheidung
Die sog. Wegzugsbesteuerung wurde 1972 eingeführt, um die in Gesellschaftsanteilen enthaltenen stillen Reserven bei Wegzug eines Gesellscha...