vorläufig nicht rechtskräftig
Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH [VIII R 20/24)]
Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des obligatorischen Zinserlasses nach § 233a Abs. 8 Satz 1 AO
Leitsatz (redaktionell)
- Sind die Tatbestandsmerkmale des § 233a Abs. 8 Satz 1 AO erfüllt, so verbleibt auf der Rechtsfolgenseite im Gegensatz zu § 227 AO kein Ermessenspielraum. In den Regelungsbereich fallende Nachzahlungszinsen sind zwingend zu erlassen. § 233a Abs. 8 Satz 1 AO stellt hierbei eine gesetzliche Erlassregelung sui generis dar.
- Auf Tatbestandsebene des § 233a Abs. 8 Satz 1 AO ist maßgeblich die Tatsache der Anrechnung der Leistung als solcher auf die festgesetzte und zu entrichtende Steuer durch die Finanzbehörde, nicht aber deren konkreter Zeitpunkt.
- Das Tatbestandsmerkmal der Leistungserbringung auf die später wirksam gewordene Steuerfestsetzung fordert keine explizite Tilgungsbestimmung i.S.v. § 225 Abs. 1 AO. Vielmehr kommt es ausschließlich darauf an, dass die von der Finanzbehörde angenommene Leistung mit dem Willen des Leistenden auf die später wirksam gewordene Steuerfestsetzung angerechnet wird.
Normenkette
AO § 233a Abs. 8 S. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den (weitergehenden) Erlass von Zinsen zur Einkommensteuer.
Die Klägerin wurde für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2015 mit ihrem am 12. Januar 2015 verstorbenen Ehemann, E, zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Mit Schreiben vom 25. Juli 2014 erklärten die Eheleute, vertreten durch ihren damaligen Steuerberater, gegenüber dem Beklagten bisher nicht der Einkommensteuer unterworfene, umfangreiche weitere Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie sonstige Einkünfte des Ehemannes für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2012. Sie fügten dieser Nacherklärung ausgefüllte Anlagen KAP und SO sowie zusätzlich das nachfolgend dargestellte Mehrsteuertableau (im Folgenden: „Mehrsteuerberechnung”) bei:
Unter Ziffer 5. „Antrag auf freiwillige Zahlung” des Schriftsatzes vom 25. Juli 2014 führten die Eheleute hierzu Folgendes aus:
„Wir fügen diesen Unterlagen ein Mehrsteuertableau bei, aus dem sich die voraussichtlichen Steuern und auch die steuerlichen Nebenleistungen für jeden berichtigten Veranlagungszeitraum ergeben.
In diesem Tableau werden Steuern und steuerliche Nebenleistungen überschlägig ermittelt.
Wenngleich nur die Einkommensteuer und der Solidaritätszuschlag zu verzinsen sind, wollen unsere Mandanten den geschätzten Gesamtbetrag in Höhe von EUR 1.280.000,00 EUR schnellstmöglich überweisen.
Wir bitten darum, dass die Steuerkasse sogleich eine entsprechende Sollstellung für die Steuern und die steuerlichen Nebenleistungen erzeugt. Unsere Mandanten möchten die zu erwartende Nachzahlung zeitnah begleichen, dies auch vor dem Hintergrund des gewünschten Abbruchs des weiteren Zinslaufs nach § 233a AO bzw. nach § 235 AO. [...]”
Der Beklagte teilte dem seinerzeitigen Steuerberater der Eheleute mit Schreiben vom 29. Juli 2014 mit, dass die beantragte Zahlung ohne endgültige Sollstellung ab sofort erfolgen könne. Die Finanzkasse des Beklagten werde den in Aussicht gestellten Betrag von 1.280.000 EUR entsprechend der Aufstellung des Steuerberaters verbuchen. Hierzu vermerkte die Sachbearbeiterin des Beklagten auf der Mehrsteuerberechnung neben den Beträgen 351.663,88 EUR („Zinsen § 233a AO”) und 41.589,64 EUR („Strafzuschlag auf ESt und SolZ”) „Verwahrung”. Ferner vermerkte ein Mitarbeiter des Beklagten auf der Mehrsteuerberechnung: „Wenn freiwillige Zahlung eingeht, bitte wie oben angegeben buchen” (vgl. Bl. 32 der Erlass-Akte).
Am 12. August 2014 zahlten die Eheleute im Hinblick auf die voraussichtlich anfallenden Steuernachzahlungen aus der Nacherklärung einen Betrag von 1.280.000 EUR auf einem Konto des Beklagten ein. Der Beklagte verbuchte von dieser Zahlung einen Teilbetrag i.H.v. 827.124,97 EUR für Einkommensteuern der Veranlagungszeiträume 2002 bis 2012 (Abgabeart 0030), einen Teilbetrag i.H.v. 45.517,40 EUR für Solidaritätszuschläge der Veranlagungszeiträume 2002 bis 2012 (Abgabeart 0310) sowie einen Teilbetrag i.H.v. 14.359,80 EUR für Kirchensteuern der Veranlagungszeiträume 2003 bis 2007 und 2011 (Abgabeart 0360). Den hiernach verbleibenden Betrag von 392.997,83 EUR behielt der Beklagte gleichfalls ein und verbuchte diesen unter der Abgabeart 0000 „ohne Bestimmung”. Neben dieser Buchungszeile vermerkte die Sachbearbeiterin des Beklagten erneut „Verwahrung” (vgl. Bl. 33 der Erlass-Akte).
In der Folgezeit führte das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen Z ein Steuerstrafverfahren gegen die Eheleute. Verbunden mit diesem prüfte der Beklagte gemeinsam mit dem Finanzamt für Großbetriebsprüfung Y die Richtigkeit der nacherklärten Einkünfte. Im Ergebnis gelangten diese hiernach zu der Feststellung, dass über die bereits nacherklärten Einkünfte hinaus weitere Einkommensteuern für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2014 abweichend von der Mehrsteuerberechnung festzusetzen seien.
Im Hinblick auf die sich hieraus ergebenden weiteren Mehrsteuern sowie auf M...