Leitsatz
1. Eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten wegen möglicher vertraglicher Schadenersatzverpflichtungen für die nicht vollständige Rückgabe von Leergut darf steuerrechtlich nur gebildet werden, wenn der Getränkehersteller von den den Schadenersatzanspruch begründenden Umständen Kenntnis hat oder zumindest eine derartige Kenntniserlangung unmittelbar bevorsteht.
2. Nach den im Getränkehandel branchenüblichen Abläufen kann im Rahmen laufender Geschäftsbeziehungen nur aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise mit einer vorzeitigen Inanspruchnahme des Rückgabeverpflichteten gerechnet werden.
Normenkette
§ 5 Abs. 4a, § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG, § 249 Abs. 1, § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB
Sachverhalt
Die Klägerin betreibt einen Getränkegroßhandel in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG. Neben zwei anderen Getränkehändlern ist sie über einen sog. Kooperationsvertrag seit 1993 an der KG I beteiligt, die zentral den Wareneinkauf vornimmt und dazu mit mehreren Getränkeherstellern Lieferverträge abgeschlossen hat, die unter bestimmten Voraussetzungen für nicht zurückgegebenes Leergut Schadenersatz verlangen können. Nach den Lieferbedingungen der KG I ist der jeweilige Wiederbeschaffungspreis zu ersetzen.
Nach einer Außenprüfung bei der Klägerin erkannte das FA die von ihr für das Streitjahr 1999 gebildete Pfandrückstellung i.H.v. 165.600 DM nicht an. Klage und Revision hatten keinen Erfolg.
Entscheidung
Zwar sei die Bildung einer Rückstellung nicht bereits nach den Grundsätzen der Bilanzierung schwebender Geschäfte, die auch für Dauerschuldverhältnisse eingreifen, ausgeschlossen; denn insoweit läge ein vom Rückstellungsverbot nach § 5 Abs. 4a EStG nicht erfasster sog. Verpflichtungsüberhang vor. Eine nach Beendigung des schwebenden Geschäfts zu erfüllende Verpflichtung sei in der Bilanz auszuweisen: Aus der Sicht eines früheren Bilanzstichtags sei von dem Erfordernis der Erfüllung einer Verpflichtung nach Beendigung des schwebenden Geschäfts auszugehen, sog. antezipierte Passivierung (zuletzt BFH, Urteil vom 30.11.2005, I R 71/00, BFH/NV 2006, 866, m.w.N.).
Nach dem Liefervertrag der KG I mit der Klägerin sei sowohl dem Grund als auch der Höhe nach von ungewissen Verbindlichkeiten auszugehen. Die Klägerin habe zum Bilanzstichtag indes nicht ernsthaft mit ihrer Inanspruchnahme rechnen müssen. Nach den typischen Gegebenheiten im Getränkehandel sei der KG I nicht bereits aufgrund der fortlaufenden Saldenmitteilungen zugleich bekannt, ob die Klägerin ihren Rückgabeverpflichtungen vollständig und zeitnah nachkommen werde. Sie dienten auch nicht zur Vorbereitung der Durchsetzung eventueller Schadenersatzansprüche. Im Rahmen laufender Geschäftsbeziehungen könne nur aufgrund besonderer – im Streitfall freilich nicht festgestellter – besonderer Umstände ausnahmsweise mit einer Inanspruchnahme gerechnet werden. Im Übrigen hätten Schadenersatzansprüche nur aufgrund einstimmiger Beschlüsse von der KG I geltend gemacht werden können.
Hinweis
1. Die Bildung von Rückstellungen für vertragliche Verpflichtungen einerseits und für Schadenersatzansprüche sowohl vertraglicher als auch gesetzlicher Natur andererseits folgt unterschiedlichen Voraussetzungen. Der BFH bestätigt diese bereits im Urteil vom 19.10.1993, VIII R 14/92 (BStBl II 1993, 891) zu den sog. einseitigen Verbindlichkeiten ausführlich begründeten Grundsätze.
2. Verbindlichkeiten, die nach Grund und Höhe gewiss sind, müssen nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung passiviert werden, es sei denn, sie müssten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt werden.
3. Rückstellungen für dem Grund und/oder der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeiten dürfen steuerrechtlich hingegen nur gebildet werden, wenn das Bestehen oder das Entstehen einer Verbindlichkeit wahrscheinlich ist, die Verbindlichkeit wirtschaftlich vor dem Bilanzstichtag verursacht worden ist und der Schuldner ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen muss.
4. Bezüglich des letztgenannten Merkmals differenziert die Rechtsprechung nach Fallgruppen. Während für vertragliche Ansprüche regelmäßig von der Geltendmachung durch den Gläubiger auszugehen ist (BFH, Urteil vom 28.3.2000, VIII R 13/99, BStBl II 2000, 612), verlangt die Rechtsprechung sowohl für öffentlich- als auch für privat-rechtliche, seien es vertragliche oder gesetzliche Schadenersatzansprüche, entweder die positive Kenntnis des Gläubigers von den den Schadenersatzanspruch begründenden Umständen oder zumindest eine solche unmittelbar bevorstehende Kenntniserlangung.
5. Die sog. einseitigen Verbindlichkeiten sind mit den vertraglichen erst dann vergleichbar, wenn der Gläubiger die sich aus ihnen ergebende (mögliche) Berechtigung kennt. Aus dem Vorsichtsprinzip leitet die Rechtsprechung allerdings ab, dass auch bereits eine nachweisbar unmittelbar bevorstehende Kenntniserlangung zur Bildung einer Rückstellung berechtigt; denn auch dann ist die Rückstellung noch hinreichend objektivierbar. Erst von diesem Zeitpunkt an besteht eine inhaltlich u...