Auf die lohnsteuerrechtliche Beurteilung wird hier nicht eingegangen. In den Blick genommen wird die Frage, ob es zulässig war, den AG überhaupt durch Bescheid in Haftung zu nehmen oder ob das Veranlagungsfinanzamt gegenüber dem AN im Veranlagungsverfahren hätte tätig werden müssen.

Nach der bisherigen Rspr. steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Fiskus, ob er den Arbeitgeber mittels Haftungsbescheid in Anspruch nimmt oder die Steuer bei dem betroffenen Arbeitnehmer festsetzt (FG Berlin-Bdb. v. 13.11.2018 – 9 V 9023/18, EFG 2019, 132). Damit besteht ein Spielraum, der nur bei Überschreitung äußerster Grenzen zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung führen kann (sog. Ermessensfehler). Die Ermessensentscheidung muss "Recht und Billigkeit" entsprechen, wobei bereits dieser Begriff schillernd ist. Damit besteht das Risiko, dass praktisch oft der jeweilige Rechtsanwender nach seinem Geschmackentscheidet, wie diese Begriffe im Einzelfall zu verstehen sind. In der bisherigen Rspr. haben sich zur Ermessensausübung Kriterien entwickelt, die bei der Ermessensausübung zu beachten sind.

Gegen eine vorrangige Inanspruchnahme des AG könnten im obigen Beispielsfall insb. folgende fünf Gesichtspunkte sprechen:

  • Bereits mit Urteil vom 10.1.1964 hat der BFH das Kriterium des Ausscheidens so gewertet, dass dieses gegen eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers sprechen kann (BFH v. 10.1.1964 – VI 262/62 U, BStBl. III 1964, 213). Der AN ist aus dem Betrieb ausgeschieden.
  • Wenn der betroffene Arbeitnehmer im Betrieb für den Lohnsteuerabzug verantwortlich war, z.B. als Geschäftsführer oder Vorstand, soll dies ein Kriterium gegen eine vorrangige Inanspruchnahme des Arbeitgebers sein (FG Münster v. 28.10.1975 – VIII 1477/72 L, EFG 1976, 309). Der AN war hier als Vorstandsvorsitzender formalrechtlich für die Abführung der Lohnsteuer verantwortlich.
  • Gegen eine vorranginge Inanspruchnahme des Arbeitgebers spricht, wenn es sich nur um wenige, einzeln bekannte Arbeitnehmer handelt (BFH v. 14.4.1967 – VI R 23/66, BStBl. III 1967, 469; v. 20.9.1985 – VI R 45/82, BFH/NV 1986, 240). Im vorliegenden Fall geht es nur um eine einzige Person und nicht um eine Vielzahl von Arbeitnehmern.
  • Es erscheint rechtsmissbräuchlich, wenn der Fiskus das Haftungsverfahren nutzt, um eine fehlende Korrekturmöglichkeit im Veranlagungsverfahren zu umgehen. Der Gesetzgeber hat mit den Korrekturregelungen Rechtssicherheit schaffen wollen und diese darf nicht durch das Haftungsverfahren ausgehebelt werden.
  • Die Inanspruchnahme des AG erscheint vor dem Hintergrund der vorgenannten drei Kriterien unverhältnismäßig. Eine Ermessensausübung ist jedenfalls dann ermessensfehlerhaft, wenn sie unverhältnismäßig ist. Erst recht ist die Inanspruchnahme des AG nicht erforderlich, da der Fiskus bei zeitnaher Besteuerung auch die Veranlagung bei dem AN hätte überprüfen können. Da es sich bei der lohnsteuerlichen Haftung um eine Inpflichtnahme Privater für staatliche Zwecke handelt, muss diese insb. dem Gebot der Erforderlichkeit als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen.

Die vorgenannten fünf Kriterien sind nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sie zwingend gegen eine Haftungsinanspruchnahme des Arbeitgebers sprechen. Die Rechtsprechung ist zudem von Kasuistik gekennzeichnet. So hat der BFH – hier entgegengesetzt – auch entschieden: "Kann das Finanzamt nach Durchführung einer Lohnsteueraußenprüfung die zu wenig einbehaltene Lohnsteuer bei den Arbeitnehmern nicht nachfordern, weil diese bestandskräftig zur Einkommensteuer veranlagt worden sind und die Veranlagungen auch nicht nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden können, so kann der Arbeitgeber sich hierauf gegenüber seiner Inanspruchnahme im Haftungswege nicht berufen; seine Inanspruchnahme ist auch nicht ermessensmißbräuchlich" (BFH v. 26.7.1974 – VI R 24/69, BStBl. II 1974, 756).

Alte Rechtsprechung: Da dieses Urteil fast 50 Jahre alt ist, kann der Rechtsprechung allerdings auch Gelegenheit gegeben werden, dieses Urteil zu überdenken. Die oben genannten fünf Kriterien sind gute Gründe, im vorliegenden Einzelfall zu einer anderen Entscheidung zu gelangen, so dass der Fiskus sich an den AN hätte wenden müssen.

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