Wird bei einer Praxisveräußerung ein Verlust erzielt, wird dieser mit anderen Einkünften im Rahmen des Verlustausgleichs verrechnet. Normalerweise ergibt sich jedoch aus dem Verkauf einer freiberuflichen Praxis ein Gewinn. Dieser zählt zu den steuerpflichtigen Einkünften aus selbstständiger Arbeit. Da es sich um außerordentliche Einkünfte handelt, gibt es dafür als "Härteausgleich" für die punktuelle Besteuerung der teilweise über einen längeren Zeitraum entstandenen stillen Reserven tarifliche Begünstigungen, die zum Teil nur auf Antrag gewährt werden.
1.1 Freibetrag von maximal 45.000 EUR
1.1.1 Voraussetzungen
Der steuerliche Freibetrag von maximal 45.000 EUR steht nicht jedem Freiberufler zu, der seine Praxis veräußert, da er an das Alter und den Gesundheitszustand des Freiberuflers, also an personenbezogene Voraussetzungen, geknüpft ist, und außerdem nicht mehrfach gewährt werden kann:
- Den Freibetrag erhält nach § 18 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG nur, wer mindestens 55 Jahre alt oder im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig ist.
- Den Freibetrag gibt es nach § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG nur einmal im Leben, deshalb muss der Freibetrag in der Steuererklärung beantragt werden. Freibeträge, die vor dem 1.1.1996 in Anspruch genommen wurden, werden nicht angerechnet.
- Übersteigt der Veräußerungs-/Aufgabegewinn 136.000 EUR, wird der Freibetrag gem. § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG um den übersteigenden Betrag gekürzt. Ab 181.000 EUR Veräußerungs- oder Aufgabegewinn gibt es keinen Freibetrag mehr.
Die Freibetragsregelung ist darauf gerichtet, Einkünfte, die der finanziellen Absicherung eines Steuerpflichtigen im Alter oder bei Berufsunfähigkeit dienen können und dabei eine bestimmte Grenze nicht übersteigen, zum Ausgleich sozialer Härten in begrenzter Höhe steuerfrei zu stellen.
1.1.2 Vollendung des 55. Lebensjahrs im Veräußerungszeitpunkt
Die Altersvoraussetzung für die Gewährung des Freibetrags ist erfüllt, wenn der Veräußerer im Zeitpunkt der Praxisveräußerung sein 55. Lebensjahr vollendet hat. Als Veräußerungszeitpunkt ist nicht der Abschluss des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfts, d. h. das Datum des Kaufvertrags, maßgebend, sondern der Übergang des (mindestens) wirtschaftlichen Eigentums an den wesentlichen Betriebsgrundlagen, also das dingliche Rechtsgeschäft.
Gewährung des Freibetrags wegen Vollendung des 55. Lebensjahrs
Steuerberater A ist am 15.12.1964 geboren. Mit Vertrag vom 10.10.2019 verkauft er seine Praxis an den Steuerberater B. Die Praxisübergabe erfolgt vereinbarungsgemäß am 31.12.2019. Der von A erzielte Veräußerungsgewinn beträgt 170.000 EUR. Da A am 15.12.1964 geboren ist, vollendet er gem. § 108 AO i. V. m. §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 14.12.2019 sein 55. Lebensjahr. Da er den Betrieb am 31.12.2019 übergibt, hat er im Zeitpunkt der Veräußerung sein 55. Lebensjahr vollendet. Demzufolge stehen ihm auf Antrag sowohl der Freibetrag des § 16 Abs. 4 EStG als auch die Tarifermäßigung des § 34 Abs. 3 EStG zu.
Der Veräußerungsgewinn von 170.000 EUR übersteigt die Freibetragsgrenze von 136.000 EUR um 34.000 EUR, somit ermäßigt sich der Freibetrag von 45.000 EUR um 34.000 EUR, beträgt also 11.000 EUR.
1.1.3 Freibetrag bei Berufsunfähigkeit
Der Freibetrag wird auf Antrag auch gewährt, wenn der Steuerpflichtige im sozialversicherungsrechtlichen Sinne – nach zutreffender Auffassung der Finanzverwaltung "im Veräußerungszeitpunkt" – dauernd berufsunfähig ist Ein Zusammenhang zwischen der Berufsunfähigkeit und dem Verkauf oder der Aufgabe ist nicht notwendig. Berufsunfähig ist nach § 240 Abs. 2 SGB VI, wessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als 6 Stunden täglich gesunken ist. Maßgebender Zeitpunkt, bis zu dem die dauernde Berufsfähigkeit eingetreten sein muss, ist die steuerliche Entstehung des Veräußerungs- oder Aufgabegewinns, d. h. der Zeitpunkt der Gewinnrealisation. Das ist der Zeitpunkt des Erfüllungsgeschäfts. Der Nachweis der Berufsunfähigkeit kann nach Verwaltungsauffassungdurch die Vorlage eines Bescheids des Rentenversicherungsträgers, durch eine amtsärztliche Bescheinigung oder u. U. durch die Leistungspflicht einer privaten Versicherungsgesellschaft erbracht werden.
1.1.4 Antragserfordernis
Der Freibetrag wird gem. § 16 Abs. 4 Satz 1 nur gewährt, wenn der Steuerpflichtige dies beantragt. Folge der Antragspflicht ist auch das Wahlrecht des Steuerpflichtigen bei mehreren begünstigten Veräußerungsvorgängen (z. B. Veräußerung eines Kommanditanteils und Veräußerung eines Sozietätsanteils) zu bestimmen, für welchen Vorgang der Freibetrag gewährt wer...