Formelle Bestandskraft, aber keine materielle Bestandskraft: Der Vorbehalt der Nachprüfung bewirkt gem. § 164 Abs. 2 S. 1 AO, dass die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert werden kann, solange der Vorbehalt wirksam ist. Demnach erwächst ein mit dem Vorbehalt der Nachprüfung versehener Steuerbescheid zwar in formelle Bestandskraft – er wird unanfechtbar –, sofern er nicht angefochten wird. Aufgrund der Regelung des § 164 Abs. 2 S. 1 AO tritt jedoch keine materielle Bestandskraft ein, dass heißt, der Steuerbescheid bleibt für die Dauer des Bestehens des Vorbehalts der Nachprüfung inhaltlich jederzeit änderbar, ohne dass hierfür weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Das bedeutet, dass die Änderung einer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Steuerfestsetzung ohne weitere Sachverhaltsaufklärung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zulässig ist (BFH v. 20.8.1998 – V B 61/98, BFH/NV 1999, 287). Dies gilt sowohl für Änderungen zugunsten als auch solche zuungunsten des Steuerpflichtigen. Die Änderung kann von Amts wegen (vgl. § 164 Abs. 1 S. 1 AO) oder auf Antrag des Steuerpflichtigen erfolgen (§ 164 Abs. 2 S. 2 AO).
Beraterhinweis Ein Steuerbescheid wird, auch wenn er unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht, unanfechtbar (formell bestandskräftig), sofern er nicht rechtzeitig, das heißt innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 S. 1 AO, mit dem Einspruch (§ 347 Abs. 1 S. 1 AO) angefochten wird. Denn jedwede Steuerfestsetzung ist unanfechtbar, wenn sie nicht oder nicht mehr mit ordentlichen Rechtsbehelfen angefochten werden kann; davon zu unterscheiden ist die Frage der Abänderbarkeit (vgl. BFH v. 19.12.1985 – V R 167/82, BStBl. II 1986, 420; v. 11.12.1997 – V R 50/94, BStBl. II 1998, 420). Demnach ist ein nach Ablauf der Einspruchsfrist eingelegter Einspruch gegen einen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerbescheid wegen Verfristung unzulässig und daher zu verwerfen (vgl. § 358 S. 2 AO). Wichtig: Kann wegen eingetretener Bestandskraft kein zulässiger Einspruch mehr eingelegt werden, kommt auch die Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids (§ 361 Abs. 2 AO) nicht mehr in Betracht.
Solange indessen der Vorbehalt der Nachprüfung wirksam ist, kann jederzeit die Änderung der Steuerfestsetzung beantragt werden (vgl. § 164 Abs. 2 S. 2 AO). Der auf § 164 Abs. 2 S. 2 AO gestützte Änderungsantrag des Steuerpflichtigen ist ein Antrag i.S.v. § 171 Abs. 3 AO, der bzgl. der Festsetzungsfrist eine Ablaufhemmung bewirkt (vgl. z.B. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 171 AO Rz. 26 [April 2018]).
Beachten Sie: Auch eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung entfaltet bei Unanfechtbarkeit (formeller Bestandskraft) Drittwirkung i.S.v. § 166 AO. Dies hat vor allem Bedeutung für Haftungsbescheide (§ 191 Abs. 1 S. 1 AO), die gegen den Geschäftsführer z.B. einer GmbH gerichtet und auf § 69 AO i.V.m. § 34 Abs. 1 AO, § 35 Abs. 1 GmbHG gestützt werden. Allerdings gilt auch in einem solchen Fall, dass der Geschäftsführer als gesetzlicher Vertreter einen Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung gem. § 164 Abs. 2 S. 2 AO für die GmbH stellen kann. Beide Vorschriften – § 166 AO und § 164 Abs. 2 AO – haben einen voneinander unabhängigen Regelungs- und Anwendungsbereich (BFH v. 4.6.1996 – VII S 9/96, BFH/NV 1996, 915).