5.1 Fluide Anforderungen in der Zukunft
Da sich der Arbeitsalltag in vielen Berufen sehr schnell ändert, unterliegen Anforderungen an Kompetenzen von Stelleninhabern ebenso einem schnellen Wandel. Innerhalb der einzelnen Stellen werden neue Aufgaben, neue Techniken, neue Kundenanforderungen, neue Produkte und Leistungen hinzukommen, andere Aufgaben verlieren an Bedeutung. Menschen werden sich innerhalb des Unternehmens weiterentwickeln und neue Stellen besetzen, die es zum Teil heute noch nicht gibt. Vor diesem Hintergrund werden Anforderungen fluider.
Die konkreten Fertigkeiten, die für eine aktuelle Stelle notwendig sind, treten gegenüber den übergreifenden Kompetenzen zurück. Hier zählt zum einen die Lernbereitschaft, sich neuen Herausforderungen und Instrumenten zu stellen. Die Erfahrung einer Person, sich auf neue Situationen einzustellen, wird in der Eignungsdiagnostik größere Aufmerksamkeit gewinnen.
Wenn Innovationen gefragt sind, dann zählt der Mut zum Probieren und Scheitern. Fehlerkultur ist in den meisten Unternehmen noch ein gern verwendetes Schlagwort, das aber noch nicht mit konkreten Kommunikationsmustern unterfüttert ist. Innovativität lässt sich durchaus an Erfahrungen des Scheiterns bemessen. Der Blick auf berufliche Misserfolge und die persönlichen Strategien der Resilienz sollte größeren Raum bekommen.
Soziale Kompetenz wird immer wichtiger. Tätigkeiten, die von einer Person im Stillen und ohne Vernetzung mit anderen auszuführen sind, werden in Zukunft eher von Robotern erledigt. Menschliche Tätigkeiten werden durchgängig höhere Anforderungen an Kommunikation stellen. Dabei wird Kommunikation in allen Unternehmen interkulturelle Anschlussfähigkeit erfordern. Das bedeutet zum einen Kommunikation in Fremdsprachen als auch die Zusammenarbeit über die Grenzen kultureller Bubbles hinweg. Eignungsdiagnostik wird diese Kompetenzen stärker in den Fokus nehmen.
Fairness im Bewerbungsprozess wird eine zunehmende Rolle spielen, denn Unternehmen können sich immer weniger leisten, den oben beschriebenen "Fehler zweiter Art" zu begehen, nämlich durchaus geeignete Bewerber aufgrund von sachfremden Vorurteilen auszusortieren. Um den Einfluss von Vorurteilen zu minimieren ist es möglich, die erste Auswahl anhand von anonymisierten Profilen vorzunehmen. Die Entscheidungsträger für die Erstauswahl sehen kein Bild, kein Geschlecht, keine Nationalität und kein Alter der Bewerber.
Diese Strategie unterstellt, dass die Bereitschaft, sich mit einer Person zu beschäftigen, steigt, wenn man selbst in einem vorentscheidenden Schritt diese Person bereits als "interessant" bewertet hat.
5.2 Digitalisierung: KI der Eignungsdiagnostik
Dieser Aspekt der Fairness ist auch ein treibender Faktor im Einsatz von KI-gestützten Systemen in der Personalauswahl. Die KI agiert (scheinbar) vorurteilsfrei. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Entscheidungsfähigkeit einer KI abhängig ist von den Daten, die zum Training verwendet werden. Wurde die KI vorwiegend mit Daten weißer Männer trainiert, trägt sie diesen Bias in ihren Entscheidungen weiter. Die Anbieter von KI-Systemen zur Personalauswahl bemühen sich, diesen Effekt durch neue Trainingsdaten zu minimieren.
Eine Vorauswahl von Bewerbungen über ein KI-System erleichtert die repetitive Arbeit für die Recruiter. Diese Systeme ermüden nicht und analysieren die 30. Bewerbung immer noch mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die erste.
Unternehmen sind jedoch auf das Vertrauen der Bewerber angewiesen, um nachhaltig ausreichend Bewerber auf offene Stellen zu gewinnen. Insofern ist es von hoher Bedeutung, wie weit die Bewerber eine KI-gestützte Auswahl akzeptieren. Einer aktuellen Studie zufolge schreiben Bewerber einem menschlichen Entscheider eine höhere Vertrauenswürdigkeit zu als einer KI. Der Einsatz von KI-Systemen in der Personal(vor-)auswahl erfordert also eine kommunikative Begleitung, um einen Vertrauensverlust zu vermeiden.
Ein möglicher Einsatz von KI-Systemen könnte aber auch in der Anforderungsanalyse liegen. Die Auswertung von Interviews mit Stakeholdern durch eine KI könnte andere Facetten der wahrgenommenen Anforderungen hervorbringen als die Filterung durch die Wahrnehmung des Eignungsdiagnostikers. Auch in der Konstruktion von Interviewleitfäden und Simulationen kann die KI wertvolle Beiträge liefern – selbst, wenn die tatsächlich geführten Interviews dann von den Interviewern mit ihrem persönlichen Stil gefüllt werden. Eine KI als Begleiter in remote geführten Interviews könnte in der Auswertung der Interviews Beobachtungen beisteuern, die den menschlichen Interviewern und Beobachtern entgehen.