Kein Reemtsma-Anspruch, wenn Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren: Der VII. Senat des BFH fügte den vorgenannten Urteilen noch eine Variante hinzu. Er bejahte zwar den Reemtsma-Anspruch auch für Inlandssachverhalte, ging aber davon aus, dass er – zumindest in den entschiedenen Fällen (die Leistenden waren insolvent) – nicht bestehe, weil die zutreffende Belastung der Steuerpflichtigen mit Mehrwertsteuer über andere Regelungen des Verfahrensrechts hergestellt werden könne. Ihm zufolge konnten die Leistungsempfänger die streitigen Beträge, soweit sie sie wegen der Insolvenz der Leistenden nicht von diesen zurückfordern konnten, im Billigkeitsweg gem. §§ 163, 227 AO als Vorsteuern geltend machen. Dies sah er als hinreichende Möglichkeit für die Leistungsempfänger an, den wegen des Insolvenzverfahrens nicht wiederzuerlangenden Teil der gegen den Rechnungsaussteller gerichteten zivilrechtlichen Forderung (aus wirtschaftlicher Sicht) zu realisieren.
Im Einzelfall möglicherweise vorteilhaft: Diese Schlussfolgerung des VII. Senats gilt natürlich ohnehin nur dann, wenn der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Wenn nicht, läuft sie per se leer. In den entschiedenen Fällen mag sie hingegen vielleicht ihre Berechtigung haben. Sie könnte aus der Sicht des insolventen Leistenden (Insolvenzverwalters) sogar vorteilhaft sein, wenn dieser später die Steuerschuld nach § 14c UStG korrigieren und damit einen Erstattungsanspruch der Masse generieren könnte. Zu beachten wäre allerdings, dass ein solcher Anspruch, zumindest in den Fällen des § 14c Abs. 2 UStG, voraussetzen würde, dass die Gefährdung des Steueraufkommens gem. § 14c Abs. 2 Satz 3 UStG als (endgültig) beseitigt anzusehen wäre. Ob das der Fall ist, ist fraglich. Selbst wenn nämlich der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren rückgängig gemacht worden wäre, würde die Vorsteuer ggf. im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme erneut geltend gemacht.
Vorsteuer im Billigkeitsverfahren: Verallgemeinerungsfähig sind die Feststellungen des VII. Senats ohnehin nicht. So ist nämlich zum einen gar nicht gesagt, dass dem (vorsteuerabzugsberechtigten) Leistungsempfänger stets ein Anspruch auf Gewährung des Vorsteuerabzugs im Billigkeitsverfahren zusteht. Der V. Senat hatte in seinem Urteil vom 30.4.2009, auf das sich der VII. Senat bezog (es ging um fehlerhafte Rechnungsangaben), festgestellt, im Billigkeitsverfahren könne ausnahmsweise ein Vorsteuerabzug in Betracht kommen. Insbesondere berücksichtigte er, dass der Leistungsempfänger gutgläubig gewesen war und alle Maßnahmen ergriffen hatte, um sich von der Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überzeugen. Außerdem hatte der V. Senat die Sache an das FG zurückverwiesen, damit dieses klären konnte, worin der Vertrauenstatbestand zu sehen sein könnte, aufgrund dessen dem Leistungsempfänger ggf. trotz Nichtvorliegens der materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Vorsteuerabzug zu gewähren sei. Insbesondere bei Steuern i.S.d. § 14c UStG, die der Leistende in Rechnung stellt, ist wohl kaum (auch nicht im Billigkeitsverfahren) damit zu rechnen, dass die zuständige Finanzbehörde einen Vorsteuerabzug akzeptiert. Eine generelle Entscheidung, dass nicht abziehbare Vorsteuern immer im Billigkeitsweg geltend gemacht werden können, hat der V. Senat jedenfalls vermutlich nicht treffen wollen. Nota bene entschied auch der VII. Senat in den o.g. Verfahren letztendlich gar nicht, ob die Voraussetzungen eines Vorsteuerabzugs im Billigkeitsverfahren erfüllt waren, weil seine Entscheidung im Verfahren über den Abrechnungsbescheid erging.
Verfahrensrechtliche Herausforderungen: Bei Anwendung der Feststellungen des VII. Senats müsste erst geklärt werden, ob der Vorsteuerabzug – im Festsetzungsverfahren oder als Billigkeitsmaßnahme – gewährt wird. Erst dann könnte (im Festsetzungs- oder Billigkeitsverfahren?) über den Reemtsma-Anspruch entschieden werden, der ja gerade erfordert, dass der (vorsteuerabzugsberechtigte) Leistungsempfänger keine Vorsteuererstattung erhalten hat. Das birgt aufgrund der Zweigleisigkeit der Verfahren prozessuale Risiken. Den Steuerpflichtigen ist jedenfalls zu empfehlen, stets "aus allen Rohren zu feuern", d.h. den Vorsteuerabzug und den Reemtsma-Anspruch sowohl im Festsetzungs- als auch im Billigkeitsverfahren geltend zu machen, diesbezügliche Anträge zu stellen und Rechtsbehelfe einzulegen sowie nichts rechtskräftig werden zu lassen, um nicht aufgrund der Zweigleisigkeit der Verfahren aus verfahrensrechtlichen Gründen Ansprüche zu verlieren. Ob das wirklich das ist, was die Gerichte wollen?
Ermessensreduzierung auf Null: Fraglich wäre außerdem, ob das Ermessen der Finanzbehörde in einem Billigkeitsverfahren, in dem der Vorsteuerabzug gewährt werden soll, stets "auf Null reduziert" wäre (was bejahendenfalls zu der Frage führen würde, warum überhaupt in einem gesonderten Billigkeitsverfahren und nicht im Festsetzungsverfahren entschieden werden soll