Grundproblem der MwSt = Zinsen: Schließlich stellt das FG Münster die Frage, ob der Reemtsma-Anspruch auch die Zinsen umfasst. Das wäre, wenn der EuGH den Anspruch als solchen bejahen würde, fast der interessanteste Teil der Vorlagefrage. Hier hätte er nämlich die Möglichkeit, sich grundlegend zu Fragen der Verzinsung bei der Mehrwertsteuer zu äußern. Das wäre wünschenswert. Schon seit langem wird nämlich hinterfragt, ob die Verzinsung von mehrwertsteuerlichen Forderungen und Verbindlichkeiten den unionsrechtlichen Besteuerungsgrundsätzen entspricht, wenn dem Fiskus kein Liquiditätsnachteil entsteht bzw. die Steuerpflichtigen keine Liquiditätsvorteile haben.
Kein Störgefühl beim Gesetzgeber: Leider hat der Gesetzgeber die Arbeiten an den Zinsvorschriften der §§ 233 ff. AO, die er gerade durchführen musste, weil das BVerfG die Zinshöhe von 6 % p.a. für Zeiträume ab 2014 für verfassungswidrig erklärt hat, nicht zum Anlass genommen, sich der Systematik der Verzinsung bei der Mehrwertsteuer grundsätzlich zu widmen. Er hielt sich vielmehr, trotz entsprechender Kritik auch aus der Wirtschaft, sogar für verpflichtet, die Verzinsung auch bzgl. der Mehrwertsteuer so beizubehalten wie bisher.
Abgabenrechtliche Belastung der Stpfl. auch abhängig vom zeitlichen Ablauf: Damit geht es im vorliegenden Fall – wie so häufig bei der Mehrwertsteuer – nicht nur darum, ob Ansprüche oder Verbindlichkeiten bestehen, sondern auch darum, wann sie entstehen. Die Vorsteuer wurde beim Leistungsempfänger für die Jahre 2011 bis 2013 im Jahr 2019, also rückwirkend, versagt. Die Folge ist, dass der Leistungsempfänger die zu berichtigende Vorsteuer verzinsen muss. Zwar steht ihm auch ein Reemtsma-Anspruch in gleicher Höhe gegen das FA zu. Dieser soll aber nach Ansicht des FG Münster nur die Erstattung der Steuerbeträge umfassen, nicht die Zinsbeträge. Das FG führt hierzu aus, es sei der Auffassung,
"dass dieser Anspruch nur die an die Vorlieferanten gezahlte Mehrwertsteuer, nicht aber auch die Zinsen umfasst, die aufgrund der Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung auf eigenständiger Rechtsgrundlage (§ 233a AO) entstanden sind. Denn die Zinsen sind für einen Zeitraum entstanden, der zeitlich vor der erstmaligen Geltendmachung des Direktanspruchs gegenüber der Finanzbehörde liegt."
Warum es auf den Zeitpunkt "der erstmaligen Geltendmachung des Direktanspruchs" ankommen soll, ist nicht nachvollziehbar. Ansprüche umfassen regelmäßig Beträge, die vor der Geltendmachung entstanden sind.
Grundsätze der Neutralität und Effektivität: Man kann nun sicherlich eine Promotion darüberschreiben, welche Beträge der Reemtsma-Anspruch umfasst. Unter Berücksichtigung der mehrwertsteuerlichen Grundsätze kann man aber wohl sagen, dass nur eine Lösung "richtig" sein kann, die dazu führt, dass die Belastung des Leistungsempfängers neutral ist. Diese Grundsätze gelten nämlich nicht nur für die Steuer selbst, sondern auch für die Sanktionen (Verwaltungsstrafen), die für Fehlbehandlungen vorgesehen sind. Entweder dürfte also der Vorsteuerabzug nicht rückwirkend aberkannt werden oder aber der Reemtsma-Anspruch müsste auch die Zinsen umfassen. Jede andere Lösung widerspräche – solange die §§ 233 ff. AO für diese mehrwertsteuerlichen Konstellationen gelten – dem Grundsatz der Neutralität und wäre damit unionsrechtswidrig.
Fraglich, was eigentlich verzinst werden soll: Würden Zinsen anfallen und nicht erstattet, würde sich – wie so häufig bei mehrwertsteuerlichen Sachverhalten – die Frage stellen, was eigentlich verzinst werden soll. Der Leistungsempfänger hat die Steuerbeträge an den Leistenden gezahlt und sie als Vorsteuer geltend gemacht. Der Leistende hat die Steuer vereinnahmt und an den Fiskus abgeführt. Es ist also weder beim Fiskus ein Liquiditätsnachteil erkennbar noch haben die Steuerpflichtigen Liquiditätsvorteile gehabt. Diese Aspekte würde hoffentlich auch der EuGH – falls er den Anspruch bejaht – entsprechend bewerten.
Verzinsung des Reemtsma-Anspruchs: U.E. könnte man allerdings auch sagen, dass der Reemtsma-Anspruch als solcher zu verzinsen ist. Es ginge also nicht darum, ob er auch die Erstattung der Zinsen umfasst, die i.Z.m. der Vorsteuerversagung festgesetzt werden, sondern darum, ob er – nach dem Prinzip der "kommunizierenden Röhren" – ab dem Zeitpunkt besteht, ab dem der Vorsteuerabzug entfällt. Dann müsste zum einen der Steuerpflichtige die Vorsteuerrückzahlung verzinsen, zum anderen müsste der Fiskus in gleicher Höhe den Reemtsma-Anspruch verzinsen. Das wäre verfahrenstechnisch ein anderer Ansatz, am Ergebnis würde das nichts ändern.
Antwort des EuGH: Solange also Vorsteuerkorrekturen zu verzinsen sind, müsste die Antwort auf die Vorlagefrage des FG Münster auch bzgl. der Zinsen bejaht werden.
Keine Vorsteuerkürzung, keine Zinsen: Schließlich ist allerdings zu beachten, dass sich die Frage der Verzinsung sowieso nur dann stellt, wenn es tatsächlich zu einer Vorsteuerkürzung käme. Wie unter V.2. dargestellt, ist die ...