Der Beschluss des BFH v. 14.12.2022 – X R 19/21
[Ohne Titel]
RA/FAStR Thomas Wenzler
Jahrzehntelang wurde Kritik an der Richtsatzsammlung des BMF von Betriebsprüfern und Steuerfahndern abgebügelt, ohne sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Nun ist ein Verfahren anhängig, bei dem der X. Senat des BFH das BMF zum Beitritt aufgefordert hat und die Frage aufwirft, ob die amtliche Richtsatzsammlung eine generell geeignete Schätzungsgrundlage sein kann. Nach Ansicht des Autors ist dies eindeutig zu verneinen.
1. Kritik an der Richtsatzsammlung des BMF als Schätzungsmethode
Jahrzehntelang war die Richtsatzsammlung des BMF eine Art Bibel. Kritik an ihr wurde von Seiten von Betriebsprüfern und Steuerfahndern im schlimmsten Fall als Häresie gewertet. Mit ein wenig Glück wurde man nur mit Gelächter und Kopfschütteln und dem Rat, sich beim BMF zu beschweren, bedacht. Gehört wurde man jedenfalls nicht.
Und auch die Frage, ob man denn geprüft habe, ob die Berichtsfirma mit dem sog. Normalbetrieb i.S.d. Richtsatzsammlung vergleichbar sei, wozu "Vorbemerkungen A) Ziff. 3" durchaus Anlass angibt, ist für manche Prüfer bereits eine Majestätsbeleidigung. Für "Vorbemerkungen C. Ziff. 10 Schätzungsrahmen" gilt das erst recht.
Beispiel:
Unvergessen ist dem Verfasser dieses Beitrags der Fall, in dem eine Steuerfahnderin ohne nähere Prüfung die erhöhten Rohgewinnaufschlagsätze für Restaurants mit asiatischem Speisenangebot heranziehen wollte. In dem Betrieb wurden Schnitzel und Burger angeboten. Asiatisch war lediglich die Herkunft des Betreibers. Obendrein war der Betrieb Bestandteil eines Kinokomplexes. Das regelmäßige Kombiangebot "Kinokarte, Imbiss mit Getränk" für 10 EUR hatte man auch nicht gesehen. Der Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse wurde mit einem Hinweis auf angeblich hohe Getränkepreise, die den hohen Aufschlagsatz für Asia-Restaurants rechtfertigen, gekontert.
Die Kritik an der Richtsatzsammlung ist keineswegs neu. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie aber erst mit der kleinen Anfrage vom 27.8.2018 (BT-Drucks. 19/3987) und der Antwort der Bundesregierung vom 11.9.2018 (BT-Drucks. 19/4238) bekannt. Diplomatisch ausgedrückt, sind die Antworten ganz überwiegend unbefriedigend. Das sieht auch der X. Senat des BFH so. Sonst hätte er das BMF nicht nach § 122 Abs. 2 S. 3 FGO zum Beitritt aufgefordert.
2. Das Revisionsverfahren
Beteiligung des BMF am Revisionsverfahren: Im Falle des Beitritts wird das BMF etwas auskunftsfreudiger sein müssen. Das gebietet nicht nur der Respekt vor dem Steuerbürger (i.S.v. Souverän) und dem BFH – dieser sieht trotz der Antworten auf die kleine Anfrage weiteren Klärungsbedarf –, sondern auch das Rechtsstaatsprinzip. Rechtsstaatlichkeit erfordert Transparenz. Das ist kein Juristen-Geheimnis. So steht es nämlich auch in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Überschrift „Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Till Patrik Holterhus, Informationen zur politischen Bildung Nr. 351/2022 v. 2.8.2022).
Die mit der Beitrittsaufforderung verbundenen Fragen des X. Senats des BFH haben es in sich. Im Einzelnen:
Rz. 30: „Unklar erscheint insbesondere,
- welche Einzeldaten mit welchem Gewicht in die Ermittlung der Richtsätze der jeweiligen Gewerbeklasse einfließen, wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird und ob es Einzeldaten gibt, die von vornherein ausgeschlossen werden;
- ob die regional zum Teil erheblich unterschiedliche Höhe fixer Betriebskosten (insbesondere Raum- und Personalkosten) der Festlegung bundeseinheitlicher Richtsätze entgegensteht;
- weshalb die Ergebnisse von Außenprüfungen bei sog. Verlustbetrieben unberücksichtigt bleiben, obwohl auch solche Betriebe grundsätzlich einen positiven Rohgewinnaufschlagsatz ausweisen;
- ob ganz oder teilweise erfolgreiche Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen gegen die auf eine Außenprüfung ergangenen Steuerbescheide Eingang in die Richtsatzsammlung finden.”
Rz. 31: "Zudem stellt sich die Frage, wie dem Steuerpflichtigen ermöglicht werden kann, das Ergebnis einer Schätzung auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung — insbesondere auch im Hinblick auf die spezifischen Daten, die dieser Sammlung zugrunde liegen — nachzuvollziehen und zu überprüfen."
Der Verfasser wagt die Prognose, dass das BMF auf keine der Fragen des X. Senats eine den Senat befriedigende Antworten wird geben können. Regionale Unterschiede stehen bundeseinheitlichen Sätzen sicher entgegen. Ein Gastronomiebetrieb am Tegernsee hat höhere Kosten als ein solcher in der Eifel. Rechtsbehelfsverfahren nehmen oft Jahre in Anspruch. Die Änderung der Bescheide zugunsten des Steuerpflichtigen wird sicher nicht (rückwirkend) in die Richtsatzsammlung eingestellt.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die Richtsatzsammlung nach der Entscheidung über die Revision durch den X. Senat Geschichte sein.
3. Bedeutung auch für Steuerstrafverfahren
Zutreffend weist der BFH in seinem Beschluss vom 14.12.2022 darauf hin, dass Schätzungen anhand der Richtsatzsammlung nicht nur für das...