Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksamkeit eines an den bisherigen Bevollmächtigten versandten Steuerbescheids bei Widerruf der Bevollmächtigung vor Ablauf des Dreitageszeitraums nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO
Leitsatz (redaktionell)
1. Die sog. Bekanntgabefiktion (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO) findet auch Anwendung, wenn es um die Frage des Wirksamwerdens von Verwaltungsakten im Sinne von § 124 AO geht.
2. Versendet das FA einen Steuerbescheid an die bisher bevollmächtigte Kanzlei und geht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ein Widerruf der Bevollmächtigung beim FA ein, so ist der Bescheid nicht wirksam bekannt gegeben worden.
Normenkette
AO § 80 Abs. 1 S. 3, Abs. 5 S. 4, § 122 Abs. 1 Sätze 3-4, Abs. 2 Nr. 1, § 124 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015 vom 21. Dezember 2021 nicht wirksam bekanntgegeben worden sind.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Streitig ist die wirksame Bekanntgabe der Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015.
Diese hat der Beklagte am 21. Dezember 2021 erlassen und sich für ihre Bekanntgabe der Steuerberaterkanzlei … (nachfolgend: Kanzlei) als Bekanntgabeadressatin bedient. Dort gingen die Bescheide nach Mitteilung der Kanzlei am 22. Dezember 2021 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger das Mandat bereits gekündigt.
Die vorherige Vollmachtserteilung hatte die Kanzlei in die elektronische Vollmachtsdatenbank der Steuerberaterkammer des Freistaates Sachsen eingestellt. Sie löschte die Vollmacht dort nach eigener Auskunft am 22. Dezember 2021. Die Steuerberaterkammer leitete den Widerruf nach Angabe des Beklagten an die Sächsische Finanzverwaltung weiter. Der Beklagte geht von einem Zugang der Information über den Widerruf der Vollmacht am 23. Dezember 2021 aus.
Zu den erhaltenen Bescheiden erteilte die Kanzlei dem Beklagten zunächst die Auskunft, sie habe diese per Einschreiben an den Kläger weitergeleitet. Später hat sie angegeben, die Bescheidversendung an den Kläger sei per einfacher Post erfolgt.
Der Kläger trägt vor, er habe die Einkommensteuerbescheide nie erhalten.
Er beantragt sinngemäß,
festzustellen, dass die Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015 vom 21. Dezember 2021 nicht wirksam bekanntgegeben worden sind.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Bescheide seien bereits mit Zugang bei der Kanzlei am 22. Dezember 2021 wirksam geworden. Die Drei-Tages-Fiktion von § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gelte insoweit nicht, denn diese Regelung habe nur Bedeutung für die Berechnung von Rechtsbehelfsfristen. Der Zeitpunkt, an dem ein übersandter Verwaltungsakt tatsächlich wirksam werde, müsse insofern mit dem Zeitpunkt, der sich aus der Bekanntgabefiktion ergebe, nicht übereinstimmen. Erst nach dem Zugang der Bescheide habe der Beklagte vom Widerruf der Vollmacht erfahren. Auf die Wirksamkeit der Bescheide habe dies keinen Einfluss.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die eingereichten Schriftsätze, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie die zum Streitfall übergebenen Steuerakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Die Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015 vom 21. Dezember 2021 sind nicht wirksam bekannt gegeben worden.
Nach § 124 Abs. 1 AO wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, indem er ihm bekannt gegeben wird. Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein Verwaltungsakt demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten an einen Bevollmächtigten gelten nach § 80 Abs. 5 Satz 4 AO die Sätze 3 und 4 des § 122 Abs. 1 AO. Danach kann ein Verwaltungsakt auch gegenüber dem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden (§ 122 Abs. 1 Satz 3 AO). Er soll dem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden, wenn der Finanzbehörde eine schriftliche oder eine nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz elektronisch übermittelte Empfangsvollmacht vorliegt (§ 122 Abs. 1 Satz 4 AO). Ein Widerruf der Vollmacht wird der Finanzbehörde gegenüber erst wirksam, wenn er ihr zugeht (§ 80 Abs. 1 Satz 3 AO).
Wirksame Bekanntgaben an den Bevollmächtigten muss sich der Steuerpflichtige als eigenen Zugang zurechnen lassen. Jedoch können rechtsgültige Bekanntgaben nach obigen Maßgaben nicht mehr an einen Bevollmächtigten bewirkt werden, wenn der Finanzbehörde ein Widerruf seiner Vollmacht zugegangen ist; denn dann besteht kein Auswahlermessen mehr zwischen der Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen und an den Bevollmächtigten.
Die Einkommensteuerbescheide für 2014 und 2015 vom 21. Dezember 2021 sind damit nicht wirksam an die Kanzlei bekannt...