Rz. 7
Das SGB IX hat den Zweck, Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen bezüglich ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern und Benachteiligungen zu vermeiden bzw. entgegenzuwirken. Ziel ist, dass der Mensch mit Behinderung wie ein gesunder Mensch sein Leben selbst gestalten und eigene Wünsche umsetzen kann. Insofern gehört es z. B. für einen Schüler zur normalen Lebensführung, die Schule zu besuchen und wie ein "gesunder" Schüler an allen Facetten des Unterrichts teilzunehmen. Dazu gehören auch der Sport- und Musikunterricht, die schulischen Experimente und Exkursionen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 11.11.2020, L 28 KR 34/20).
Rz. 8
Für die Leistungen nach dem SGB IX sind aufgrund des gegliederten Systems durchaus unterschiedliche Rehabilitationsträger zuständig. Dass bis zur Erreichung der gleichberechtigten Teilhabe mitunter unterschiedliche Rehabilitationsträger zeitlich parallel oder zeitlich hintereinander leistungsverpflichtet werden, ist gewollt (BSG; Urteil v. 24.1.2013, B 3 KR 5/12 R).
Ein querschnittgelähmter 44-Jähriger ist von der Krankenkasse mit einem "normalen" Rollstuhl versorgt worden und hat bei der Krankenkasse einen Antrag auf Versorgung mit einem zusätzlichen elektrischen Rollstuhl zwecks regelmäßigen Besuchs von weiter entfernten engen Freunden gestellt.
Beurteilung des Leistungsanspruchs:
Grundsätzlich orientiert sich ein von der gesetzlichen Krankenkasse zu gewährleistender Behinderungsausgleich an dem Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreicht. In den Nahbereich einbezogen ist zumindest der Raum, in dem die üblichen Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt werden. Hierzu gehören nach einem abstrakten Maßstab die allgemeinen Versorgungswege (Einkauf, Post, Bank) ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege (Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken) und auch elementare Freizeitwege. Dies bedeutet auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten im Bedarfsfall viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände und zur Selbstbestimmung geben muss (vgl. BSG, Urteil v. 7.5.2020, B 3 KR 7/19 R).
Darüber hinaus ist der notwendige Bewegungsradius zu erweitern, wenn wegen schulischer, beruflicher oder sozialer Teilhabe (regelmäßig Freunde besuchen usw.) regelmäßig größere Strecken zurückgelegt werden müssen; zuständig für diese erweiterten Leistungen sind dann die anderen Rehabilitationsträger i. S. d. § 5 i. V. m. § 6 (z. B. Träger der Eingliederungshilfe, bei beruflichem Mehrbedarf: Rentenversicherungsträger oder Bundesagentur für Arbeit; vgl. BSG, Urteil v. 8.8.2019, B 3 KR 21/18 R).
Rz. 9
Bei den Leistungsansprüchen nach dem SGB IX geht es darum, dem behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen. Die Betroffenen haben nicht die Aufgabe, ihre Bedürfnisse an gesellschaftliche Notwendigkeiten anzupassen, sondern die Gesellschaft hat die Aufgabe, sich auf die Bedürfnisse der Betroffenen einzustellen. Letztendlich ist es Aufgabe des Staates und somit auch der Rehabilitationsträger, für die Teilhabemöglichkeiten bzw. für den Abbau von Barrieren zu sorgen, d. h. die Faktoren zu beseitigen, die den behinderten Menschen in seinem individuellen Alltag behindern. Aus diesem Grund spricht man seit der ab 26.3.2009 in Deutschland geltenden UN-Behindertenrechtskonvention nicht mehr von "Integration", sondern von "sozialer Inklusion". Hierbei wird der behinderte bzw. von Behinderung bedrohte Mensch nicht mehr gezwungen, für ihn nicht erreichbare Normen zu erfüllen; vielmehr ist es Aufgabe der Gesellschaft, die Strukturen und Grundlagen der Barrierefreiheit zu schaffen, damit sich der Mensch mit seinen behinderungsbedingten Besonderheiten nach Möglichkeit in die Gesellschaft (einschließlich Schule und Beruf) einbringen kann.
Ein 6 Jahre altes Kind mit nicht vorhersehbaren, plötzlichen und zugleich lebensbedrohlichen Atemaussetzern war bisher immer im Elternhaus beaufsichtigt worden. Bei den ein- bis zweimal monatlich eintretenden Atemaussetzern benötigt es dringend Erste-Hilfe-Maßnahmen, damit Herz und Atmung wieder einsetzen. Dieses wird durch den Kinderarzt bescheinigt.
Das Kind wird jetzt eingeschult. Die zukünftige Klassenlehrerin weigert sich, bei einer Anzahl von 24 Schülern in der Klasse immer das Kind wegen der drohenden Anfälle zu beaufsichtigen. Dadurch ist die Einschulung gefährdet.
Folge:
Die Rehabilitationsträger haben im Rahmen ihres Leistungsspektrums dafür zu sorgen, dass das Kind die Schule besuchen kann und auf dem Schulweg sowie während des Schulbesuchs beaufsichtigt wird. Eine Lösung könnte die Stellung einer Assistenz im Rahmen der Leistungen zur Teilnahme an Bildung sein (§ 75, § 112). Diese Assistenz hat die alleinige Aufgabe, während des Schulbesuchs das Kind ständig zu beobachten und im...