Rz. 10
Die Rechtsquellen des Unionsrechts haben einen dem innerstaatlichen Recht ähnlichen Stufenbau. Das primäre Unionsrecht ergibt sich seit dem 1.12.2009 insbesondere aus dem EUV und der AEUV. Ebenfalls seit dem 1.12.2009 gehört auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gleichrangig zum primären Unionsrecht. Die Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind gem. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Sie werden ergänzt durch das ungeschriebene primäre Gemeinschaftsrecht. Dazu gehören im Steuerrecht insbesondere die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die gleichheitssatzkonforme Besteuerung, die freiheitsschonende Besteuerung, Rechtssicherheit, Rückwirkungsverbot und Vertrauensschutz, das Verbot des Rechtsmissbrauchs und das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip.
Rz. 11
Das sekundäre Gemeinschaftsrecht umfasst alle von den Organen der Europäischen Union erlassenen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen sowie die unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen. Die AO-Vorschriften finden daher insbesondere bei gemeinschaftlichen EU-Verordnungen i. S. v. Art. 288 Abs. 2 AEUV Anwendung, die im Inland unmittelbar anzuwenden sind und dem nationalen Recht vorgehen. Allerdings treten die AO-Vorschriften insoweit wieder zurück, als das EU-Recht besondere Verfahrensregelungen enthält. Deshalb gehen Verordnungen nach § 288 Abs. 2 AEUV vor, soweit sie von einer denselben Regelungsgegenstand betreffenden EU-Verordnung überlagert werden. Das ist z. B. bei § 2a Abs. 3 AO der Fall.
Rz. 12
Regelungen durch EU-Richtlinien i. S. d. Art. 288 Abs. 3 AEUV enthalten grundsätzlich kein für den Einzelfall unmittelbar geltendes Recht. Diese Richtlinien richten sich an die Mitgliedstaaten. Diese können oder müssen – je nach zwingendem oder nicht zwingendem Inhalt – den Richtlinieninhalt in das nationale Recht transformieren. Grundsätzlich ist nur der in das nationale Recht übertragene Richtlinieninhalt Recht, auf das sich der Einzelne berufen kann.
Rz. 13
Allerdings hat der EuGH in zahlreichen Urteilen unmittelbare Folgen aus der Verletzung von EU-Richtlinien durch das nationale Recht gezogen. Zum einen hat der EuGH eine unmittelbare Anwendbarkeit auch umsetzungsbedürftiger Rechtlinien Recht zugestanden, wenn die Bestimmungen einer nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau bestimmt sind. Er hat damit den sog. Anwendungsvorrang der Richtlinienregelung begründet. Dieser lässt zwar das gemeinschaftsrechtswidrige nationale Gesetz bestehen, sieht dabei aber die unmittelbare Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift vor. In diesem Fall kann sich der Einzelne auf der Basis des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auf die Bestimmung einer nicht fristgemäß oder nur unzureichend umgesetzten Richtlinie berufen. Außerdem hat der EuGH von den nationalen Gerichten eine richtlinienkonforme Auslegung gefordert. Dadurch sind unmittelbare Rechtswirkungen der EU-Richtlinien, insbesondere der MwStSystRL anerkannt. Auch der BFH erkennt diese unmittelbaren Rechtswirkungen an. Die nationalen Gerichte haben die vom nationalen Recht abweichenden zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts einer EU-Richtlinie – auch ohne vorherige Vorlage an den EuGH – anzuwenden, wenn keine Zweifel an der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts bestehen.
Rz. 14
Schließlich gibt ein sog. (ergänzendes) Tertiärrecht, das der Kommission das Recht verleiht, durch delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte – ähnlich den Rechtsverordnungen im deutschen Recht nach Art. 80 GG – "nicht wesentliche" Vorschriften des Sekundärrechts zu ergänzen oder zu ändern.
Rz. 15
Ebenso wie beim innerstaatlichen Recht kommt es auch für die Rechtssetzung von Organen der EU nur darauf an, ob eine Regelung getroffen worden ist. Eine entsprechende Regelungskompetenz der EU ist nicht erforderlich.