Sonderausgabenabzug von Vorsorgeaufwendungen bei grenzüberschreitender Betätigung innerhalb der EU
Hintergrund: Beiträge zur Pflegeversicherung bei einer Rente aus Luxemburg
Streitig war, ob inländische Beiträge zur Pflegeversicherung bei im Inland steuerfreien Renteneinnahmen aus Luxemburg als Sonderausgaben abziehbar sind.
X lebt im Inland. Er bezog im Streitjahr (2014) eine im Inland steuerpflichtige Rente. Außerdem bezog er aufgrund seiner früheren nichtselbständigen Tätigkeit in Luxemburg eine gesetzliche Altersrente aus der dortigen Rentenversicherungskasse, die in Luxemburg besteuert wurde.
Nach luxemburgischem Einkommensteuerrecht sind zwar Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge als Sonderausgaben abziehbar, nicht aber (anders als in Deutschland, § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. b EStG) Beiträge zur Pflegeversicherung. X beantragte deshalb bei der Besteuerung seiner Inlandseinkünfte den Sonderausgabenabzug für seine Beiträge zur Pflegeversicherung in Höhe des auf die luxemburgische Altersrente entfallenden Anteils. Das FA lehnte dies ab. Da die Beiträge insoweit im Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stünden, sei die Berücksichtigung nach dem Abzugsverbot des § 10 Abs. 2 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ausgeschlossen.
Das FG widersprach dem FA und gab der Klage statt. Bei unionsrechtskonformer Auslegung greife die Ausnahme vom Abzugsverbot nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG.
Entscheidung: Ausnahme vom Abzugsausschluss für Pflegeversicherungsbeiträge
Der BFH bestätigte die Auffassung des FG. Danach greift im Streitfall nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG für die Pflegeversicherungsbeiträge des X die Ausnahme vom grundsätzlichen Abzugsverbot.
Grundsätzlich gilt das Abzugsverbot
X bezog aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit als Arbeitnehmer in Luxemburg eine Altersrente, die unter das dortige Besteuerungsrecht fiel und im Inland (wenn auch unter Progressionsvorbehalt) steuerfrei gestellt wurde. Soweit die luxemburgische Altersrente in die Beitragsbemessung für die Pflegeversicherung des X einbezogen wurde (§ 228 Abs. 1 Satz 2 SGB V), liegt ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang der Beiträge mit steuerfreien Einnahmen vor (BFH v. 5.11.2019, X R 23/17, BStBl II 2020, 763). Damit schließt § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG grundsätzlich den Abzug der (dort genannten) Vorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben aus.
Ausnahmen vom Abzugsverbot
Im Streitfall kommt das Abzugsverbot jedoch nicht zur Anwendung. Denn nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind Vorsorgeaufwendungen i.S. von Abs. 1 Nr. 2, 3 und Nr. 3a (d.h. auch Pflegeversicherungsbeiträge) ungeachtet eines unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhangs mit steuerfreien Einnahmen gleichwohl als Sonderausgaben zu berücksichtigen,
- soweit sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem (u.a.) EU-Mitgliedstaat erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a),
- diese Einnahmen nach einem DBA im Inland steuerfrei sind (Buchst. b),
- und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt (Buchst. c).
- Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.
Die Ausnahme gilt auch bei steuerfreien Renteneinkünften
Nach dem Wortlaut (Buchst. a) gilt die die Ausnahme nur bei Einnahmen aus "nichtselbständiger Tätigkeit". Darunter fallen die Bezüge des X aus der luxemburgischen gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Denn (bei Anwendung des inländischen Steuerrechts) handelt es um sonstige Einkünfte (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG). Trotz des entgegenstehenden Wortlauts gebietet jedoch die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) die Anwendung auch für den Fall des Bezugs einer gesetzlichen Altersrente aus dem (früheren) Beschäftigungsstaat. Denn X würde im Vergleich zu einem unbeschränkt Steuerpflichtigen mit einer Rente aus einer inländischen gesetzlichen Rentenversicherung, der seine Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung abziehen kann (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. b EStG), durch ein ihn treffendes Sonderausgabenabzugsverbot steuerlich schlechter stehen. Er wäre daher in seiner insoweit fortwirkenden Arbeitnehmerfreizügigkeit negativ berührt (EuGH "Bechtel" v. 22.6.2017, EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271).
Steuerfreiheit im Inland
Liegt hier unstreitig vor (Buchst. b). Die Rente unterlag in Luxemburg dem Steuereinbehalt und wurde im Inland unter Progressionsvorbehalt steuerfrei gestellt.
Keine Berücksichtigung der Pflegeversicherungsbeiträge im Beschäftigungsstaat
Der Wortlaut (Buchst. c) "keinerlei steuerliche Berücksichtigung" könnte so verstanden werden, dass das Sonderausgabenabzugsverbot nur dann entfallen soll, wenn der Beschäftigungsstaat bei der Besteuerung der dort erzielten Einnahmen für keine der nach nationalem Recht anzuerkennenden Vorsorgeaufwendungen irgendeinen Abzug zulässt. Bei Berücksichtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die Regelung indes dahin auszulegen, dass Vorsorgeaufwendungen, die nach nationalem Recht grundsätzlich steuermindernd zu berücksichtigen wären, aber im Beschäftigungsstaat von Gesetzes wegen nicht ("keinerlei") zum Abzug zugelassen sind, vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs auszunehmen sind. Nur mit dieser, isoliert auf die einzelnen Sparten der Vorsorgeaufwendungen bezogenen Betrachtung ist sichergestellt, dass der Wohnsitzstaat die ihn treffende Pflicht, die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen "vollständig" zu berücksichtigen, erfüllt. Zudem entspricht diese Auslegung dem unionsrechtlichen Gebot, die gesamte persönliche und familiäre Situation im Ganzen zu berücksichtigen. Dies wäre im Streitfall nicht gewährleistet, wenn die grundsätzlich unbeschränkt abzugsfähigen Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung weder im Beschäftigungs- noch im Wohnsitzstaat steuerlich anerkannt würden (EuGH "Imfeld und Garcet" v. 12.12.2013, EU:C:2013:822, BFH/NV 2014, 287).
Hinweis: Arbeitnehmerfreizügigkeit als unmittelbar geltendes Recht
Der BFH bekräftigt, dass Art. 45 AEUV als unmittelbar geltendes Recht zu beachten ist. Bei Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts dadurch zu berücksichtigen, dass die nationale Regelung normerhaltend in der Weise angewendet wird, dass das unionsrechtswidrige Tatbestandsmerkmal nicht beachtet wird (BFH v. 5.11.2019, X R 23/17, BStBl II 2020, 763). Eine Vorlage an den EuGH (Art. 267 Abs. 3 AEUV) hält der BFH für entbehrlich. Die Unionsrechtslage ist sowohl für die Beschränkungen beim Abzug von Aufwendungen in Bezug auf die persönliche und familiäre Situation als auch für die Fortwirkung der Grundfreiheit beim Bezug von Altersruhegeld hinreichend geklärt (BVerfG v. 4.03.2021, 2 BvR 1161/19, BFH/NV 2021, 750).
In der Parallelentscheidung X R 28/20 (ebenfalls v. 27.10.2021) stellt der BFH zudem klar, dass Beiträge zu einer bestimmten Versicherungssparte, die bereits bei der Besteuerung im Beschäftigungsstaat zum Abzug zugelassen sind, weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht nochmals in Deutschland berücksichtigt werden können.
BFH Urteil vom 27.10.2021 - X R 11/20 (veröffentlicht am 03.03.2022)
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