Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen aufgrund der Niederlassungsfreiheit
Hintergrund: Gesetzliche Regelung
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge (Vorsorgeaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Durch diese Regelung soll ein ansonsten eintretender doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden.
Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind die Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen, soweit sie u.a. in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a), diese Einnahmen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im Inland steuerfrei sind (Buchst. b) und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt (Buchst. c).
Sachverhalt: Abzugsfähigkeit von in den Niederlanden gezahlter Vorsorgeaufwendungen
Die Kläger, die in Deutschland wohnen, wurden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Der Kläger war im Inland nichtselbständig tätig. Die Klägerin arbeitete als selbständige Hebamme in den Niederlanden und erzielte aus dieser Tätigkeit einen (nach deutschem Recht ermittelten) Gewinn von 30.267 EUR. Sie hatte den Feststellungen des Finanzgerichts zufolge in den Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung (sogenannte Kopfpauschale) weitere einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge zur Renten-, Pflege- sowie zur Krankenversicherung geleistet.
Der von der Klägerin erzielte Gewinn in den Niederlanden unterlag – so die Ausführungen des Finanzgerichts – nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Klägerin insgesamt höheren "Heffingskorting" (Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) keiner Einkommensteuerbelastung.
Das Finanzamt berücksichtigte den Gewinn der Klägerin im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung ließ es sowohl bei der Ermittlung des Einkommens als auch bei der Höhe des Progressionsvorbehalts unberücksichtigt.
Die dagegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg.
Das Finanzamt habe zu Recht die in den Niederlanden gezahlten einkommensabhängigen Vorsorgeaufwendungen (Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge sowie Beiträge zur Zusatzversicherung zur Krankenversicherung) nicht als Sonderausgaben berücksichtigt. Auch die Nichtberücksichtigung der Beiträge beim Progressionsvorbehalt sei zutreffend gewesen. Allerdings sei eine Berücksichtigung der einkommensunabhängigen Beiträge zur niederländischen Krankenversicherung, der sogenannten Kopfpauschale, europarechtlich geboten; denn § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG müsse bei einem unmittelbaren Zusammenhang der Vorsorgeaufwendungen mit Einnahmen aus selbständiger Arbeit jedenfalls dann sinngemäß angewendet werden, wenn Selbständige ebenso wie Nichtselbständige Pflichtbeiträge in ein Sozialversicherungssystem zu leisten hätten. Dies ergebe sich unmittelbar aus der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV).
Mit der Revision trägt das Finanzamt vor, dass die in den Niederlanden geleisteten Versicherungsbeiträge nicht zu berücksichtigen seien, da die von der Klägerin in den Niederlanden erzielten Einnahmen in Deutschland steuerfrei gewesen seien. Ausgenommen von diesem Abzugsverbot seien gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG nur Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit.
Zudem habe das Finanzgericht festgestellt, dass zumindest ein Teil der Vorsorgeaufwendungen in den Niederlanden im Rahmen der Heffingskorting steuerlich berücksichtigt worden sei. Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit läge nicht vor.
Die Kläger trugen ergänzend vor, dass die durch die Rentenversicherungsbeiträge erworbenen Ansprüche in der Auszahlungsphase in Deutschland nachgelagert besteuert würden und sich schon daraus ein Abzug ergeben müsse. Die Heffingskorting stelle zudem keine steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen dar.
Entscheidung: BFH weist die Sache an das Finanzgericht zurück
Der BFH führt aus, dass unklar ist, ob es sich bei den von der Klägerin in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen tatsächlich um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe gegebenenfalls entsprechende Beiträge geleistet worden sind.
Aus dem Urteil des Finanzgericht ist nicht zu entnehmen, auf welcher tatsächlicher Grundlage und nach welchen rechtlichen Bestimmungen es zu dem Schluss gelangt ist, die Klägerin habe "sowohl einkommensabhängige Beiträge zur Renten- und Pflegeversicherung ... und zur Krankenversicherung als auch den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung" geleistet.
Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen, wobei Umfang und Intensität der Ermittlungen einerseits auch vom Vortrag und Verhalten der Beteiligten abhängen. Der Umstand, dass das Finanzamt dem Vortrag der Kläger nicht entgegengetreten ist, rechtfertigt für sich genommen jedoch nicht, auf weitere Sachverhaltsaufklärung zu verzichten.
Berücksichtigung nicht von vornherein ausgeschlossen
Der BFH weist darauf hin, dass eine Berücksichtigung der geleisteten Beiträge nicht von vornherein nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen werden kann.
Zwar kann es sich bei den Beiträgen um Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG stehen, handeln, jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Vorsorgeaufwendungen gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG zu berücksichtigen sind.
Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV
Zwar ist der sachliche Anwendungsbereich der Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG auf Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit beschränkt, doch muss die Regelung auch dann Anwendung finden, wenn ein Steuerpflichtiger in einem anderen Mitgliedstaat der EU als Beschäftigungsstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgeht. Dies gebietet die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV. Der Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit führt dazu, dass die Regelung auch auf Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit anzuwenden ist.
Finanzgericht hat entscheidungserhebliche Feststellungen nicht getroffen
Ob im Streitfall auch die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. b EStG erfüllt sind, kann der BFH im Streitfall nicht feststellen, da das Finanzgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, in welcher Weise die Klägerin ihre Tätigkeit als Hebamme in den Niederlanden ausgeübt hat. Die Ausübung einer freiberuflichen oder sonstigen selbständigen Tätigkeit wird nach DBA-Niederlande den Unternehmensgewinnen zugerechnet, für die das Wohnsitzprinzip gilt. Danach liegt das Besteuerungsrecht beim Wohnsitzstaat Deutschland, wenn die Geschäftstätigkeit nicht durch eine in dem anderen Staat (Niederlande) belegene Betriebsstätte, zu der keine Feststellungen getroffen wurden, ausgeübt wird.
Zudem hat das Finanzgericht keine Feststellungen zu der Frage getroffen, in welcher Weise in den Niederlanden Vorsorgeaufwendungen bei der Besteuerung von Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit berücksichtigt werden.
Zurückverweisung an das Finanzgericht
Da weder die notwendigen Tatsachenfeststellungen noch die erforderlichen Feststellungen zum maßgeblichen ausländischen Recht vom Finanzgericht getroffen wurden und eine eigene Entscheidung dem BFH nicht möglich war, hob er das angefochtene Urteil auf und wies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurück.
Hinweis: Keine doppelte Berücksichtigung als Sonderausgaben
Für den zweiten Rechtsgang weist der BFH darauf hin, dass für die Frage, ob der Beschäftigungsstaat nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG "keinerlei" steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dort bezogener Einnahmen zulässt, die einzelnen Sparten der Vorsorgeaufwendungen getrennt zu beurteilen sind und dass Vorsorgeaufwendungen, die bei einer grenzüberschreitenden Tätigkeit bereits der Beschäftigungsstaat im Rahmen der Besteuerung der dort erzielten und im Inland steuerfreien Einnahmen zum Abzug zulässt, im Rahmen der inländischen Besteuerung nicht nochmals als Sonderausgaben zu berücksichtigen sind (BFH v. 27.10.2021, X R 28/20, BFH/NV 2022, 473).
Zudem können Vorsorgeaufwendungen im Rahmen des Progressionsvorbehalts nicht berücksichtigt werden. Das Unionsrecht verpflichtet den Wohnsitzstaat weder auf Ebene des Sonderausgabenabzugs noch im Rahmen des Progressionsvorbehalts, (Alters-)Vorsorgeaufwendungen, deren Berücksichtigung durch ein DBA dem besteuernden Beschäftigungsstaat übertragen worden ist, nochmals im Rahmen der inländischen Besteuerung zum Abzug zuzulassen (BFH v. 13.04.2021, I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357). Der hiermit einhergehende Ausschluss eines doppelten Abzugs derselben Vorsorgeaufwendungen gilt ebenso, wenn die Entpflichtung des Wohnsitzstaats darauf beruht, dass der Beschäftigungsstaat außerhalb einer bilateralen oder multilateralen Übereinkunft die steuerliche Entlastung übernimmt (BFH v. 27.10.2021, X R 28/20, BFH/NV 2022, 473).
Die angeführten Urteile sind zwar zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) ergangen, lassen sich aber ebenso auf die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) übertragen.
BFH Urteil vom 24.05.2023 - X R 28/21 (veröffentlicht am 31.08.2023)
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