Anwendung des Abzugsverbots des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG
Hintergrund: Gesetzliche Regelungen
Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge (Vorsorgeaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Nach der Rückausnahme des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind Vorsorgeaufwendungen ungeachtet des in Teilsatz 1 angeordneten Abzugsverbots zu berücksichtigen, soweit sie in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen, diese Einnahmen nach einem DBA im Inland steuerfrei sind und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Einnahmen zulässt.
Sachverhalt: Kläger bei zwischenstaatlicher Einrichtung beschäftigt
Der Kläger ist bei einer zwischenstaatlichen Einrichtung (Organisation) an deren Hauptsitz in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Organisation ist durch ein Übereinkommen mehrerer Vertragsstaaten errichtet worden. Deutschland hat mit der Organisation eine Vereinbarung abgeschlossen, wonach die Organisation eine eigene Steuer auf die von ihr gezahlten Gehälter erhebt. Umgekehrt sind diese Gehälter unter Anwendung des Progressionsvorbehalts von der deutschen Einkommensteuer befreit. Die Organisation hat ein eigenes Sozialversicherungssystem eingerichtet; ihr Personal ist von sämtlichen Pflichtbeiträgen an deutsche Sozialversicherungsträger befreit.
Der Kläger begehrte bei seiner Einkommensteuerveranlagung 2016 den Abzug der an die Organisation gezahlten Beiträge zum dortigen Kranken- und Rentenversicherungssystem. Das Finanzamt (FA) lehnte dies ab und berücksichtigte den vom Kläger bezogenen steuerfreien Arbeitslohn bei der Ermittlung des Steuersatzes auf das übrige Einkommen des Klägers (Progressionsvorbehalt).
FG weist Klage als unbegründet zurück
Die nach der erfolglosen Durchführung des Einspruchsverfahrens erhobene Klage wies das FG mit der Begründung ab, das Abzugsverbot nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG sei anzuwenden, weil die Vorsorgeaufwendungen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem steuerfreien Arbeitslohn stünden. Die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG enthaltene Ausnahmeregelung sei nicht anwendbar, weil die Steuerbefreiung nicht auf einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) beruhe und die Vereinbarung nicht mit einem DBA vergleichbar sei.
Entscheidung: BFH bestätigt Entscheidung der Vorinstanz
Der BFH hat die Revision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen und entschieden, das FG sei zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Abzugsverbots des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG erfüllt seien und die in Teilsatz 2 der genannten Norm enthaltene Rückausnahme nicht greife.
Unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang der Beiträge mit steuerfreien Einnahmen
Die vom Kläger an das eigene Sozialversicherungssystem der Organisation gezahlten Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung stehen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem von der Organisation bezogenen, in Deutschland einkommensteuerfreien Arbeitslohn, so dass das Abzugsverbot eingreift.
Steuerfreie Einnahmen i. S. der genannten Regelung sind solche, die von der deutschen Einkommensbesteuerung ausgenommen sind. Dies folgt aus der Systematik des deutschen Einkommensteuerrechts. Die Steuerbefreiung kann im EStG, in anderen Gesetzen, in völkerrechtlichen Verträgen (z. B. DBA) oder – wie hier – in einer auf einem sonstigen zwischenstaatlichen Übereinkommen beruhenden Vereinbarung angeordnet sein.
Die von der Organisation an ihre aktiven Bediensteten gezahlten Gehälter sind aufgrund der mit Deutschland geschlossenen Vereinbarung von der deutschen Einkommensteuer befreit. Sie stellen damit steuerfreie Einnahmen i. S. d. § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG dar.
Die an die Organisation gezahlten Vorsorgeaufwendungen des Klägers stehen auch in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem von der Organisation bezogenen steuerfreien Arbeitslohn. Ein solcher Zusammenhang ist anzunehmen, wenn die Einnahmen und die Vorsorgeaufwendungen durch dasselbe Ereignis veranlasst sind.
Voraussetzungen der Rückausnahme nicht erfüllt
Zwar stehen die streitgegenständlichen Vorsorgeaufwendungen in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU (hier: Deutschland) erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit. Auch wäre für Zwecke des Revisionsverfahrens – trotz der fehlenden entsprechenden Feststellungen des FG – das Vorbringen der Kläger als richtig zu unterstellen, der „Beschäftigungsstaat“ lasse keinerlei steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung der Einnahmen zu.
Es fehlt jedoch an der Voraussetzung, wonach die Einnahmen nach einem DBA im Inland steuerfrei sein müssen. Denn die Steuerbefreiung beruht nicht auf einem DBA, sondern auf einer Vereinbarung, die ihre Grundlage wiederum in einem zwischenstaatlichen Übereinkommen hat.
Keine Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen beim Progressionsvorbehalt
Die an die Organisation gezahlten Renten- und Krankenversicherungsbeiträge können auch nicht im Rahmen des Progressionsvorbehalts bei der Ermittlung des auf das steuerpflichtige Einkommen anzuwendenden Steuersatzes als Abzugsposten berücksichtigt werden. Denn nach dem klaren Gesetzeswortlaut des § 32b EStG gehen nur „Einkünfte“ in die Ermittlung des besonderen Steuersatzes ein. Da Vorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben nicht bereits bei Ermittlung der Einkünfte berücksichtigt, sondern vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden, beeinflussen sie die Höhe der Einkünfte nicht.
Hinweis: Keine Verletzung des Unionsrechts
Der BFH sieht durch seine Entscheidung auch das Unionsrecht nicht verletzt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fällt in den Anwendungsbereich der Arbeitnehmer-Freizügigkeit, wer als Unionsbürger – unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit – in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausübt. Vorliegend befinden sich demgegenüber sowohl der Wohnsitz als auch der Beschäftigungsort des Klägers im Inland. Damit handelt es sich nicht um einen unionsrechtlich relevanten grenzüberschreitenden Sachverhalt.
BFH, Urteil v. 11.7.2023, X R 17/22; veröffentlicht am 5.10.2023
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