Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
Rz. 19
Zur Frage des Verschuldens gibt es in der Rspr. eine umfangreiche Kasuistik. Wegen der Anwendung des subjektiven Verschuldensbegriffs sind die Entscheidungen der Gerichte zu Einzelfällen jedoch nur bedingt auf andere Fälle übertragbar. Andererseits kann die Rspr. des BVerfG, der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie anderer Gerichte zu Wiedereinsetzungsfällen in anderen Rechtsgebieten hier herangezogen werden, da die Rechtslage zum Verschulden bei der Auslegung und Anwendung der Wiedereinsetzungsregelungen in anderen Rechtsbereichen derjenigen des § 110 AO entspricht. Daher ist die Entwicklung im Recht der Wiedereinsetzung nicht in jedem Rechtsbereich isoliert, sondern im Ganzen zu betrachten.
Rz. 20
Abwesenheit ist unterschiedlich danach zu beurteilen, wie langwierig sie im Einzelfall ist und wie häufig sie vorkommt. Für Urlaubsabwesenheit ist in der Rspr. des BVerfG und der obersten Gerichtshöfe des Bundes der allgemeine Gedanke entwickelt worden, dass für die Zeit vorübergehender und verhältnismäßig kurzer Abwesenheiten keine besondere Vorsorge getroffen werden müsse, insbesondere nicht, wenn der Eingang von fristauslösenden Verwaltungsakten nicht zu erwarten sei. Dabei soll die Grenze einer nur vorübergehenden und relativ kurzen Abwesenheit bei vier oder sechs Wochen liegen.
Das muss wegen des Vorrangs der Gerechtigkeit vor Rechtsbehelfs- und ähnlichen Fristen im Einzelfall auch gelten, wenn der Stpfl. damit rechnen musste oder konnte, dass während seiner Urlaubsabwesenheit ein fristauslösender Eingang geschieht. Schuldhaft versäumt sein soll eine Frist, wenn ein Stpfl. vor Antritt eines etwa zweimonatigen Urlaubs sich damit begnügt, seinen Vertreter danach zu befragen, wann die zu erwartende und dann möglicherweise anzufechtende Entscheidung voraussichtlich zugestellt wird. Will sich jedoch der Betroffene durch Abwesenheit der Zustellung entziehen oder trifft ihn ein Verschulden bei der Abholung eines Schreibens nach Rückkehr, so kommt eine Ablehnung der Wiedereinsetzung in Betracht. Unverschuldet ist die Fristversäumung auch dann nicht wegen Abwesenheit, wenn der Stpfl. während des Urlaubs mehrmals in sein Büro zurückkehrt, um die u. U. eingegangene Post durchzusehen.
Im Fall längerer Abwesenheit muss der Betroffene z. B. durch Nachsendeauftrag oder Bestellung eines Vertreters entsprechende Vorkehrungen dafür treffen, dass Fristen eingehalten werden können. Das Beauftragen von Hilfspersonen, die die eingehende Post sichten und den Stpfl. über wichtige Briefe unterrichten, reicht aus. Dehnt sich der Heimataufenthalt eines Ausländers durch Krankheit weiter aus, so sind das Fehlen eines Nachsendeauftrags und die Bestellung eines Vertreters kein Verschulden. Für die Urlaubsabwesenheit berufsmäßiger Vertreter gelten andere, strengere Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung (s. Rz. 67).
Für Geschäftsreisen muss grundsätzlich das gleiche wie für Urlaubsabwesenheiten gelten. Befindet sich allerdings ein Stpfl. des öfteren oder länger auf Geschäftsreisen, so ist das Unterlassen von Vorkehrungen, dass ihn Zustellungen verlässlich rechtzeitig erreichen oder Termine erforderlichenfalls ordnungsgemäß wahrgenommen werden können, ein zurechenbares Verschulden. Notfalls ist bei regelmäßiger Abwesenheit die Beauftragung einer Hilfsperson oder die Erteilung eines Nachsendeauftrags erforderlich.
Ist der Geschäftsführer einer GmbH urlaubsbedingt abwesend, so hat er für eine sachgerechte Wahrung eiliger Terminsachen während seiner Abwesenheit zu sorgen. Missachtet er diese Verpflichtung oder erfüllt sie nicht in ordnungsgemäßer Weise, so ist ein der GmbH zuzurechnendes Organisationsverschulden gegeben. Für die Abwesenheit aus Krankheitsgründen vgl. unten Rz. 32.
Rz. 21
Alter und Versagen des Gedächtnisses wegen Alters allein sind regelmäßig kein Grund für eine Schuldfreiheit. Umgekehrt muss der Beteiligte bei Einsatz eines sehr betagten Angehörigen mit der altersbedingten Vergesslichkeit rechnen, sodass das Fehlen einer zusätzlichen Kontrolle schuldhaft ist. Tritt die altersbedingte Vergesslichkeit unerwartet und plötzlich ein, ist Wiedereinsetzung zu gewähren (Wagner, in Kühn/v. Wedelstädt, AO, § 110 Rz. 16).
Rz. 22
Arbeitsüberlastung ist grundsätzlich kein Entschuldigungsgrund, ob sie nun auf Übernahme zu umfangreicher beruflicher Aufgaben, auf Ehrenämtern, politischen und sonstigen Nebentätigkeiten, starker familiärer Inanspruchnahme oder Berufsfortbildung beruht. Auch wenn eine länger andauernde Überlastung zeitweilig die Fähigkeit zur konzentrierten Arbeit einbüßen lässt, scheidet eine Wiedereinsetzung aus. Ausnahmsweise kann eine unvorhersehbare und unabwendbare Überbelastung eine Fristversäumung entschuldigen.
Rz. 23
Ausländer müssen sich im Hinblick auf § 87 Abs. 1 AO ("Die Amtssprache ist deutsch") im Fall von Sprachschwierigkeiten grundsätzlich so nachhaltig um Übersetzung bzw. Aufklärung bemühen, dass sie die Frist einhalten können. Aus dem Grundsatz des ...