Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 153
Die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Schätzung ist nicht davon abhängig, dass das Ergebnis der Schätzung den tatsächlichen Verhältnissen entspricht. In allen Schätzungsfällen entspricht die festgesetzte Steuer allenfalls zufällig derjenigen Steuer, die bei vollständiger Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen festgesetzt worden wäre. Abweichungen von den tatsächlichen Verhältnissen sind daher notwendig mit einer Schätzung verbunden. Die Legitimation der durch die Schätzung festgesetzten Steuer besteht darin, dass die formalen Vorschriften über das Schätzungsverfahren eingehalten worden sind und das Ergebnis sich als schlüssige, wirtschaftlich vernünftige und mögliche, wenn auch an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens sich bewegende, Steuer darstellt ("Legitimation durch Verfahren"). Verlässt die Schätzung diesen Schätzungsrahmen, d. h., ist das Ergebnis unschlüssig, wirtschaftlich unvernünftig und unmöglich, ist die Schätzung rechtswidrig, d. h. durch den Einspruch anfechtbar. Schätzungsfehler, die zur Rechtswidrigkeit führen, liegen auch vor, wenn Schätzungsmethoden falsch angewandt werden, wenn nicht alle bekannten Tatsachen berücksichtigt werden und wenn der Schätzungsrahmen im Einzelfall überschritten wird. Der Steuerbescheid ist aber regelmäßig nicht nichtig. Auch eine Mehrzahl grober Schätzungsfehler führt regelmäßig nicht zur Nichtigkeit des Bescheids, da angesichts der Unsicherheit einer Schätzung kein besonders schwerwiegender, offenkundiger Fehler vorliegt. Nichtigkeit kann nur ausnahmsweise unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorliegen, wenn die Finanzbehörde offenkundig willkürlich und erkennbar ohne sachgerechte Schätzungserwägungen zum Nachteil des Stpfl. geschätzt hat, weil dann die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem extrem hohen Maß verletzt worden sind. Das ist etwa der Fall, wenn sich das FA nicht an dem oberen, für den Stpfl. ungünstigen Schätzungsrahmen einschließlich eines Sicherheitszuschlags orientiert hat, sondern bewusst zum Nachteil des Stpfl. Besteuerungsgrundlagen schätzt, die bei realistischer Einschätzung der bekannten Tatsachen und Umstände keinesfalls so vorgelegen haben können. Das ist auch der Fall, wenn das FA Aufwendungen bzw. Verluste nicht in die Schätzung einbezieht, obwohl nach den Umständen des Einzelfalls wahrscheinlich ist, dass solche Verluste entstanden sind. Verfahrensfehler, wie etwa eine Schätzung, ohne dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 162 AO vorliegen, gehören aber nicht hierzu. Nichtig ist eine auf einer Schätzung beruhende Steuerfestsetzung aber auch dann, wenn das Schätzungsergebnis objektiv (also ohne subjektive Willkür des handelnden Beamten) krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht, obwohl ausreichend Ermittlungsmöglichkeiten bestanden. Gleiches gilt, wenn nicht erkennbar ist, dass und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden. In diesen Fällen liegt ein objektiv willkürlicher Hoheitsakt vor, der nichtig ist. Selbst wenn Anhaltspunkte für weitere Ermittlungshandlungen fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd richtig zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu benutzt werden, die Steuererklärungspflicht zu sanktionieren und den Stpfl. zur Erfüllung der Erklärungspflichten anzuhalten; "Strafschätzungen" sind unzulässig.