Rz. 38

Nach Abs. 1 S. 2 Nr. 2 kann die Steuerfestsetzung vorläufig ergehen oder ausgesetzt werden, wenn das BVerfG eine für die Steuerfestsetzung maßgebliche steuerrechtliche Vorschrift für mit dem GG nicht vereinbar erklärt und den Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet hat. Die Zulässigkeit der vorläufigen Steuerfestsetzung in den Fällen der späteren rückwirkenden Änderung der Rechtslage aufgrund einer Entscheidung des BVerfG war ursprünglich streitig. Das BVerfG[1] hatte als obiter dictum darauf hingewiesen, dass bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Neuregelung für die Übergangszeit nur eine nach § 165 AO vorläufige Steuerfestsetzung erfolgen dürfe, damit den Stpfl. nicht später Bestandskraft der Steuerfestsetzungen entgegengehalten werden könne. Dementsprechend hatte die Rechtsprechung des BFH[2] die Ungewissheit darüber, wie der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Neugestaltung ausgestalten werde, als ungewisse Tatsache angesehen. Dies widersprach dem sonst verwandten Begriff der Tatsache und ist nur aus der verfassungsrechtlich begründeten Notwendigkeit zu erklären, die betroffenen Fälle nicht bestandskräftig werden zu lassen.[3] Zur Klärung dieser Rechtsfrage ist Abs. 1 S. 2 Nr. 2 durch Gesetz v. 21.12.1993, BStBl I 1994, 50 eingefügt worden. Die Neuregelung ist nach Art. 97 § 1 Abs. 4 EGAO für die bei Inkrafttreten des Gesetzes am 30.12.1993 anhängigen Verfahren in Kraft getreten. Nachdem damit für diese Fälle in Abs. 1 S. 2 Nr. 2 eine ausdrückliche gesetzliche Regelung vorhanden ist, besteht keine Notwendigkeit mehr für eine bedenkliche Interpretation des Begriffs der "Tatsache".

 

Rz. 39

Von dem Tatbestand der Nr. 3 ist Nr. 2 dadurch abgegrenzt, dass bei Nr. 2 die Entscheidung des BVerfG bereits ergangen ist, während sie bei Nr. 3 noch aussteht. Die Vorläufigkeit nach Nr. 2 kann daher erst ab dem Zeitpunkt angeordnet werden, in dem das BVerfG die Entscheidung erlassen hat. Ein schwebendes Verfahren mit der Erwartung, dass das BVerfG den Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichten wird, ermächtigt nicht zu einer Vorläufigkeit; für diese Fälle greift der Tatbestand der Nr. 3 ein.

 

Rz. 40

Unter den Tatbestand der Nr. 2 fallen nicht die Fälle der schlichten Nichtigerklärung einer Norm. In diesen Fällen hat das BVerfG selbst die Konsequenzen gezogen, die den Stpfl. belastende Norm ist unwirksam, ein Tätigwerden des Gesetzgebers ist insoweit nicht erforderlich. Die Steuerfestsetzung kann auf der Grundlage ergehen, dass die fragliche Norm nichtig ist. Eine Ungewissheit über das anzuwendende Recht besteht insoweit nicht. Für die Vorläufigkeit genügt es daher nicht, dass der Gesetzgeber plant, die nichtige Norm durch eine wirksame zu ersetzen. Eine solche Regelung kann auch in verfassungskonformer Weise nicht mit Rückwirkung ergehen. Erfasst werden sollen diejenigen Fälle, in denen das BVerfG wegen der befürchteten Breitenwirkung die Vorschrift nicht uneingeschränkt für nichtig erklärt, sondern sie für einen bestimmten Zeitraum noch aufrecht erhält und den Gesetzgeber in der Zwischenzeit verpflichtet, eine Neuregelung zu schaffen. Ob die Steuerfestsetzungen dann vorläufig zu ergehen haben, hängt von folgenden Umständen ab:

  • Die Neuregelung entfaltet keine rückwirkende Kraft; der Gesetzgeber erlässt die Neuregelung rechtzeitig vor dem für notwendig gehaltenen Zeitpunkt des Inkrafttretens: Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung ist nicht erforderlich.
  • Die Neuregelung entfaltet keine rückwirkende Kraft; der Gesetzgeber kann die vom BVerfG gesetzte Frist aber nicht einhalten: Die Steuerfestsetzungen sind für Zeiträume ab dem Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist vorläufig vorzunehmen.
  • Die Neuregelung soll nach Maßgabe der Entscheidung des BVerfG rückwirkende Kraft erhalten: Die Steuerfestsetzungen sind vorläufig vorzunehmen, um die rückwirkende Änderung zu ermöglichen. Zwar kann die gesetzliche Regelung insoweit besondere Vorschriften zur Durchbrechung der Bestandskraft enthalten, sodass insoweit die Vorläufigkeit nicht erforderlich wäre. Die Stpfl. würden aber trotzdem Einspruch einlegen, da sie nicht sicher sein können, ob eine solche Änderungsvorschrift geschaffen wird. Außerdem hemmt die Vorläufigkeit zusätzlich den Ablauf der Festsetzungsfrist.[4]
 

Rz. 41

Der Stpfl. hat einen Rechtsanspruch darauf, dass die Steuerfestsetzung bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen vorläufig durchgeführt wird; das Ermessen der Finanzbehörde ist insoweit auf Null reduziert.[5] Soweit die Finanzverwaltung die Ansicht vertreten sollte, dass insoweit ein Ermessensspielraum besteht und die Vorläufigkeit nur dann vorzunehmen ist, soweit das FA hierzu von dem BMF oder den obersten Finanzbehörden der Länder angewiesen ist[6], verstößt dies, anders als in den Fällen des Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 4 gegen die in Rz. 38 zitierte Rechtsprechung. Dieser Ansicht ist daher nicht zu folgen.

[1] BVerfG v. 3.11.1982, 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79, 363/80, BStBl II 1982, 717, 729.

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