Rz. 72

"Rückwirkend" ist ein den steuerlich relevanten Sachverhalt änderndes Ereignis, wenn die Änderung zeitlich nach dem Entstehen des Steueranspruchs erfolgt und daher nachträglich der Finanzbehörde bekannt wird.[1] Tritt das Ereignis vor dem Entstehen des Steueranspruchs (d. h. bei periodischen Steuern vor dem Ende des Vz) ein, handelt es sich um ein Ereignis mit unmittelbarer (zeitgerechter) Wirkung für den Steueranspruch. Es liegt kein Ereignis mit Wirkung für die Vergangenheit vor. Wird das Ereignis bei der Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt, ist die Steuerfestsetzung von Anfang an unrichtig, da sie nicht die Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens des Steueranspruchs richtig widerspiegelt. Die Steuerfestsetzung kann nur wegen Bekanntwerdens schon bestehender, aber bei der Steuerfestsetzung unbekannter Tatsachen nach § 173 AO geändert werden.[2]

 

Rz. 72a

Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ist nur möglich, wenn steuerliche Rückwirkung eintritt, d. h. das Ereignis nach den steuerlichen Vorschriften auf den abgelaufenen Vz oder Zeitpunkt zurückwirkt und durch die rückwirkende Änderung des Sachverhalts der ursprünglich richtige Steuerbescheid unrichtig wird. Es genügt also nicht, dass das Ereignis den steuerlich maßgebenden Sachverhalt anders gestaltet. Es muss hinzukommen, dass steuerlich an Stelle des ursprünglichen Sachverhalts der geänderte Sachverhalt zugrunde zu legen ist. Der Tatbestand des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO ist andererseits nicht erfüllt, wenn der ursprüngliche Steuerbescheid bereits ohne Berücksichtigung des rückwirkenden Ereignisses rechtswidrig war.[3] Die Norm kann also nicht dazu herangezogen werden, einen bereits im ursprünglichen Bescheid enthaltenen Rechts- oder Tatsachenfehler zu korrigieren. Eine Änderung ist daher aufgrund einer anderen rechtlichen Würdigung des unveränderten Sachverhalts nicht möglich.[4]

 

Rz. 73

Ein rückwirkendes Ereignis liegt nur vor, wenn es in dem ursprünglichen Besteuerungszeitraum, und nicht etwa nur in dem Vz, in dem das Ereignis eingetreten ist, zu berücksichtigen ist. Ob steuerliche Rückwirkung i. d. S. vorliegt, ist für jeden Einzelfall und für jede Steuerart gesondert zu prüfen. So entfaltet im Bereich der einkommensteuerlichen Einkünfteermittlung ein Ereignis häufig keine steuerliche Rückwirkung. Der Gewinn ist bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich nach den Umständen des Bilanzstichtags und nach den Kenntnissen des Tags der Bilanzaufstellung zu ermitteln. Nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung können künftige Ereignisse in gewissem Umfang zwar durch Rückstellungen berücksichtigt werden; diese späteren Ereignisse entfalten aber keine Rückwirkung, sondern sind erst im Vermögensvergleich des Zeitraums, in dem sie eingetreten sind, bilanziell zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt für den Bereich der Überschusseinkünfte. Da insoweit das Zufluss- und Abflussprinzip nach § 11 EStG gilt, sind Zuflüsse und Abflüsse in dem Zeitraum zu berücksichtigen, in dem sie eintreten, entfalten also keine Rückwirkung. Eine Einnahme ist im Zeitpunkt des Zuflusses zu erfassen, auch wenn sie später zurückgezahlt werden muss.[5] Für Ausgaben gilt entsprechendes.

 

Rz. 74

Gleiche Grundsätze gelten bei Rechtsverhältnissen, denen ein Risikoelement innewohnt. Die steuerlichen Auswirkungen sind dann auf den Stichtag unter Schätzung des Risikos zu bestimmen. Der spätere Eintritt oder Nichteintritt des Risikos hat keine steuerliche Rückwirkung und ist daher nicht nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO zu berücksichtigen. Das ist etwa der Fall bei der Bewertung einer Leibrente oder dauernden Last, die von der Lebensdauer des Berechtigten abhängt.[6] Der früher oder später als bei der Bewertung angenommene Tod des Berechtigten entfaltet keine Rückwirkung.

 

Rz. 75

Auch in sonstigen Fällen der Bewertung kann eine Rückwirkung ausgeschlossen sein. Der Verkehrswert (gemeine Wert) richtet sich nach dem zu einem bestimmten Stichtag im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu erzielenden Preis. Mängel der Sache, die den Vertragsparteien zum Bewertungsstichtag verborgen sind und auch nicht als Verdacht zutage treten (z. B. Altlastenverdacht), beeinflussen den Wert auf den Bewertungsstichtag nicht. Treten diese Umstände später zutage, handelt es sich nicht um ein steuerlich rückwirkendes Ereignis, da es steuerlich auf den Bewertungsstichtag nicht berücksichtigt werden kann.[7]

 

Rz. 76

Es entfaltet einkommensteuerlich auch keine Rückwirkung, wenn die Voraussetzungen der Bauherreneigenschaft vorlagen, später aber das die Bauherreneigenschaft begründende Rechtsverhältnis aufgelöst wird. Die neue Gestaltung in einem späteren Vz ändert nicht die Gestaltung in dem früheren Vz. Das gilt selbst dann, wenn die Parteien der Auflösung des Vertragsverhältnisses rückwirkende Kraft beigelegt haben.[8]

 

Rz. 77

Allgemein ist im ESt-Recht häufig (vor allem bei der Einkünfteermittlung) die tatsächliche Herrschaftsmöglichkeit maßgebend; diese kann, im Gegensatz zur rechtlichen Herrschaftsb...

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