Rz. 10

Der Inhalt der Verträge über Besteuerungsfragen, der nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht geworden ist, genießt regelmäßig Vorrang vor normalen innerstaatlichen Steuergesetzen, weil er als spezielleres Recht vorgeht. Im Einzelfall ist nicht immer klar, ob die Regel eines innerstaatlichen Steuergesetzes spezieller oder ebenso speziell, aber neuer ("lex posterior") ist als die übernommene Vertragsregelung. In § 2 Abs. 1 AO wird geregelt, dass in diesen Fällen das Vertragsrecht vorgeht. Die Vorschrift beschränkt damit die Grundsätze "lex specialis ­derogat legi generali" und "lex posterior derogat legi priori" dadurch, dass sie in das Verhältnis mehrerer Gesetzesvorschriften eingreift und dem Vertragswillen damit Vorrang verschafft.[1] Da sie selbst nur Teil eines einfachen Gesetzes ist, kann jedoch ihre Wirkung nicht darüber hinausgehen. Sie kann jederzeit durch ein einfaches Gesetz ganz oder nur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Verhältnis zwischen zwei Vorschriften aufgehoben werden.[2] Einer Änderung des völkerrechtlichen Vertrags bedarf es deswegen hierzu nicht.

 

Rz. 11

Wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG[3] folgt daraus für § 2 Abs. 1 AO, dass sich eine abkommensüberschreibende Norm gegenüber einem DBA nur durchsetzen kann, wenn ein entsprechender Überschreibungswille (z. B. durch die Formulierung "ungeachtet des Abkommens" deutlich zum Ausdruck gebracht wird.[4] Dadurch soll die unbeabsichtigte Überschreibung eines DBA verhindert werden.

 

Rz. 12

Bislang nicht abschließend geklärt ist die Frage eines Anwendungsvorrangs für nachfolgende völkerrechtliche Verträge. Nach richtiger Auffassung kann die abkommensdurchbrechende Wirkung nicht an der zeitlichen Abfolge der Verträge festgemacht werden.[5] Es muss aber der Wille zur Überschreibung klar erkennbar sein.[6]

[1] Musil, in HHSp, AO/FGO, § 2 AO Rz. 205; Oellrich, in Gosch, AO/FGO, § 2 AO Rz. 74.
[2] Musil, in HHSp, AO/FGO, § 2 AO Rz. 205.
[3] Vgl. nur Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 59 GG Rz. 19.
[4] BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12, BVerfGE 144, 1 Rz. 67, 71; BFH v. 3.9.2020, I R 80/16, BStBl II 2021, 227 m. w. N.; BFH v. 8.9.2021, I R 17/18, BFH/NV 2022, 372; Schönfeld/Häck, DBA, 2. Aufl. 2019, Systematik Rz. 182ff.; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 2 AO Rz. 6b.
[5] BFH v. 3.9.2020, I R 80/16, BStBl II 2021, 237 Rz. 24; Frotscher, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2020, Rz. 250.
[6] BFH v. 3.9.2020, I R 80/16, BStBl II 2021, 237 Rz. 24; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 2 AO Rz. 6c.

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