Rz. 13
Ein "Treaty Override" liegt vor, wenn ein DBA durch eine innerstaatliche Regelung überschrieben wird. Beispiele für ein "treaty override" sind z. B. § 15a Abs. 1 EStG, § 50d Abs. 1, 3 und Abs. 8–11 EStG, § 20 Abs. 2 AStG. Das Problem einer abkommensüberschreibenden innerstaatlichen Regelung kann nur auftreten, wenn der Wille zur Abkommensüberschreibung im Wortlaut der Norm zum Ausdruck kommt oder durch Auslegung zweifelsfrei zu ermitteln ist.
Liegt ein solcher Fall vor, ist zwischen dem Außenverhältnis und dem Innenverhältnis zu unterscheiden:
Im Außenverhältnis (im Verhältnis zu dem anderen Staat) liegt ein Vertragsbruch (Verstoß gegen den Grundsatz "pacta sunt servanda") vor. Trotz der Völkerrechtswidrigkeit wird der "Treaty override" im absoluten Regelfall sanktionslos bleiben, weil die Kündigung des gesamten Vertrags wohl nie in Betracht kommen wird.
Rz. 14
Im Innenverhältnis des vertragsbrüchigen Staats zum Stpfl. kann sich Stpfl. (weil nicht Gegenstand des völkerrechtlichen Vertrags) nicht unmittelbar auf den völkerrechtlichen Vertrag berufen. Einen Verstoß des "Treaty Override" gegen das Verfassungsrecht liegt nicht vor.; der Einzelne kann sich insbesondere nicht auf die BVerfG-Rspr. stützen. Zur Zulässigkeit des "Treaty Override" in ausländischen Rechtsordnungen vgl. Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Grundlagen des Abkommensrechts, Rz. 203ff.
Rz. 15
Das Recht der EU, auf deren Grundlage oder nach deren Anweisungen innerstaatliches Recht ergeht, sind keine Verträge mit anderen Staaten i. S. d. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Wegen des Vorrangs des Art. 23 Abs. 1 GG ist § 2 AO im Ergebnis nicht anwendbar. Meist werden zudem solche Richtlinien, Entscheidungen usw. der EU durch den nationalen Gesetzgeber in Gesetzen verarbeitet bzw. in bestehende Gesetze eingearbeitet, also nicht unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht. Selbst wenn aber eine solche Richtlinie oder Entscheidung durch ein Transformationsgesetz unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht wird, kann § 2 AO nach seinem Wortlaut nicht gelten. Das ist im Ergebnis unschädlich, weil das Unionsrecht seinen Vorrang vor nationalem Recht bereits selbst anordnet.
Rz. 16
Zu Einzelheiten des Europäischen Rechts, insbesondere den Anforderungen zum primären und sekundären Unionsrecht vgl. Frotscher, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2020, Rz. 55ff. zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in Bezug auf die Befugnisse zum Abschluss von DBA und auf deren Inhalt vgl. z. B. Musil, in HHSp, AO/FGO, § 2 AO Rz. 300ff.; Schönfeld/Ditz, DBA, 2. Aufl. 2019, Systematik der Doppelbesteuerungsabkommen Rz. 119ff.