1.4.1 Zweck und System der Vorschrift
Rz. 7
Seit Jahrzehnten hat der Gesetzgeber immer wieder Anläufe unternommen, durch Einführung einer sog. Vollverzinsung die Vor- und Nachteile bei unterschiedlichen Zahlungs- und Erstattungszeitpunkten auszugleichen und die Besteuerung dadurch gerechter zu machen. Die Realisierung der Vollverzinsung musste der Gesetzgeber immer wieder verschieben, da die Verwaltung sich technisch außerstande sah, diese Verzinsung zu praktizieren. Erst nach Einführung des vollintegrierten Festsetzungs- und Erhebungsverfahrens in den Finanzverwaltungen aller Bundesländer eröffnete sich im Jahr 1988 die Möglichkeit der Einführung.
Rz. 8
Als Vollverzinsung wird jetzt meist auch die Verzinsung bezeichnet, die nach Einfügung des § 233a AO durch das SteuerreformG 1990 gilt. Diese Bezeichnung soll den Gegensatz zu der bis dahin geltenden beschränkten Verzinsung kennzeichnen, ist jedoch nicht zutreffend. Das neue Zinssystem führt zwar eine Verzinsung für sehr viel weitergehende Bereiche mit sich als die bisherige sporadische Verzinsung. Sie deckt vor allem auch Lücken ab, die die bisherige Verzinsung gelassen hatte. Dies gilt jedoch nur für einige wichtige Steuerarten (ESt, KSt, USt, GewSt, frühere VSt), weil bei ihnen die Fälligkeitszeitpunkte besonders weit auseinanderfallen und dadurch bei der Vielzahl der Einzelfälle eine erhebliche Ungleichbehandlung entsteht. Diese soll durch § 233a AO wenigstens teilweise ausgeglichen werden.
1.4.2 Sollverzinsung
Rz. 9
Die Berechnung der Zinsen nach § 233a Abs. 3 und 5 AO beruht auf der Verzinsung nach dem Grundsatz der Sollverzinsung. Zu verzinsen ist also die Differenz, die sich bei einem Vergleich der Sollbeträge ergibt. Das Soll der festgesetzten Steuer (Soll) wird dem Soll der festgesetzten Vorauszahlungen (Vorsoll) gegenübergestellt. Der Unterschiedsbetrag ist die festgesetzte Steuer vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, die anzurechnende KSt und die festgesetzten Vorauszahlungen. Eine Ausnahme bietet lediglich § 233a Abs. 3 S. 3 und Abs. 5 AO für die Verzinsung bestimmter Erstattungsbeträge, bei denen der Gesetzgeber im Ergebnis der Ist-Besteuerung folgt; dies wirft die Frage der Gleichbehandlung in Nachzahlungsfällen auf.
Rz. 10
Mit dieser Regelung sollen nach dem Willen des Gesetzgebers der Liquiditäts- und potentielle Zinsvorteil des Stpfl. und seine damit verbundene erhöhte steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden. Für die Festsetzung der Zinsen ist keine konkrete Berechnung eines tatsächlich eingetreten Zinsschadens oder Zinsvorteils erforderlich. Eine umfassende Ausgestaltung nach dem Ist-Prinzip hat der Gesetzgeber als zu kompliziert verworfen. Nach dem Sollprinzip ergibt sich die Zinsberechnung aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem Vorsoll (bei Abs. 3 die zu Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen der festgesetzten Steuer) und der letztlich festgesetzten Steuer.
Allerdings werden auch immer wieder die Erfahrung einer weiteren Komplizierung des Besteuerungsverfahrens und einer Klimaverschlechterung zwischen Finanzverwaltung, Stpfl. und ihren Beratern eingewendet. Außerdem hat die aus Gründen der Praktikabilität recht grobe, pauschale Regelung wiederum Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten mit sich gebracht, die die Rspr. zunächst zu einer kritischen Betrachtung der Regelung angeregt haben. Daher war eine für die Praxis unzumutbare Komplizierung des Zinsrechts zu befürchten. Durch Gesetzesänderungen insbes. zur Anwendung des sog. Unterschiedsbetrags sowie zur Behandlung der Fälle mit Verlustabzügen und der Berücksichtigung rückwirkender Ereignisse konnten grobe Lücken geschlossen werden (dazu Rz. 65ff).