Rz. 1
Den in § 34 AO genannten gesetzlichen Vertretern und damit auch den anderen unter § 34 AO fallenden Personen wird hinsichtlich der Belastung mit den steuerlichen Pflichten derjenige gleichgestellt, der als Verfügungsberechtigter nach außen auftritt. Die Vorschrift ist eine Ergänzung zu § 34 AO. Soweit Personen steuerliche Pflichten für andere bereits nach § 34 AO zu erfüllen haben, kommt § 35 AO daher nicht zum Tragen. Die Vorschrift trifft in erster Linie die durch Rechtsgeschäft Verfügungsberechtigten. Zwar kann § 35 AO grundsätzlich auch einschlägig sein, wenn der Betreffende als kraft Gesetzes oder behördlicher oder gerichtlicher Anordnung verfügungsberechtigt auftritt; die kraft Gesetzes, behördlicher oder gerichtlicher Anordnung Verfügungsberechtigten fallen aber regelmäßig bereits unter § 34 AO. Im Einzelfall kann es jedoch aus Beweis- und Abgrenzungsgründen zweckmäßig sein, auf § 35 AO zurückzugreifen, wenn nicht eindeutig die Voraussetzungen des § 34 AO erfüllt sind, der Wortlaut des § 35 AO aber passt. Der Ergänzungstatbestand des § 35 AO bedeutet aber auch, dass Verfügungsberechtigte nur dann in Anspruch genommen werden dürfen, wenn nicht andere Personen nach § 34 AO verpflichtet sind. Im Verhältnis zu einem unter § 34 AO fallenden Nachfolgegeschäftsführer soll dennoch die Verpflichtung eines faktischen Geschäftsführers aus § 35 AO (Rz. 8) bei der Ausübung des Auswahlermessens über potenzielle Haftungsschuldner abzuwägen sein. Auch sonst stellt der BFH den Vorrang des § 34 AO gegenüber dem § 35 AO zurück, z . B. wenn der bestellte Geschäftsführer i. S. d. § 34 AO gegenüber dem faktischen Geschäftsführer nur untergeordnet tätig gewesen ist oder wenn neben dem nominellen GmbH-Geschäftsführer ein faktischer Geschäftsführer und ein Nachfolgegeschäftsführer tätig gewesen sind.
Die Vorschrift setzt eine Verfügungsmacht voraus. Nach bürgerlichem Recht kann Verfügungsmacht für ein Handeln in fremdem Namen (Bevollmächtigung) oder in eigenem Namen (Ermächtigung) bestehen. Dabei ist etwa der Bevollmächtigte nicht ohne weiteres nach § 35 AO Verpflichteter, sondern nur bei gleichzeitig vorhandener Verfügungsmacht und nur in deren Umfang. Die Vorschrift stellt auf das rechtliche und tatsächliche Können der Person ab, die als Verfügungsberechtigter auftritt.
Rz. 2
Entscheidend für die Belastung mit den steuerlichen Pflichten entsprechend § 34 Abs. 1 AO ist die Tatsache des Auftretens nach außen (vgl. dazu Rz. 9). Ob dies im eigenen oder fremden Namen geschieht, ist nicht entscheidend, so dass auch der als Verfügungsberechtigter auftretende Bevollmächtigte erfasst wird. Da steuerliche Pflichten nach dem Wortlaut der Vorschrift nur insoweit eintreten, als die nach außen auftretende Person sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann, kommt eine Anwendung des § 35 AO auch nur insoweit in Betracht, als eine Verfügungs- oder Vertretungsmacht besteht.
Bei Vortäuschung einer tatsächlich nicht bestehenden Verfügungsmacht scheidet daher eine Anwendung der Vorschrift grundsätzlich aus. Wenn der BFH das Bestehen eines formell-rechtlichen Vertragsverhältnisses bzw. einer vertraglichen Berechtigungsgestaltung früher für nicht erforderlich hielt, so beachtet er nicht, dass die Regelung die rechtliche und tatsächliche Erfüllbarkeit durch die auftretende Person verlangt.