Rz. 55
Nach § 362 Abs. 2 S. 1 AO hat die Rücknahme "den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge".
Es geht also – anders als bei einem Einspruchsverzicht nach § 354 AO – nur der "eingelegte" Einspruch verloren, was den Stpfl. nicht daran hindert, solange die Einspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist, ggf. noch einmal einen Einspruch einzulegen.
Rz. 56
Für den Fall, dass der Einspruchsführer (oder sein Vertreter) trotz Anhängigkeit eines Einspruchs ein weiteres Mal Einspruch eingelegt hat, wird allgemein die Auffassung vertreten, dass der zweite Einspruch durch die Rücknahme des ersten Einspruchs in die Zulässigkeit "hineinwächst". Das soll jedoch dann nicht gelten, wenn sich der zweite Einspruch gegen einen im Laufe des Einspruchsverfahrens ergangenen Änderungsbescheid richtet. Der Änderungsbescheid werde nach § 365 Abs. 3 AO automatisch Gegenstand des Einspruchsverfahrens, so dass der zweite Einspruch per se unzulässig sei. Diese Lösung ist m. E. unzutreffend. Vielmehr handelt es sich um ein und denselben Einspruch, über den eine einheitliche Entscheidung zu ergehen hat. Es kann somit auch nur die Rücknahme dieses einen Einspruchs erfolgen. Zutreffend weist Birnbaum darauf hin, dass die Erklärungen des Einspruchsführers oder seines Vertreters bei einer mehrfachen Einspruchseinlegung unter Beachtung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung daraufhin zu würdigen sind, ob er seinen Einspruch tatsächlich zurücknehmen und das Einspruchsverfahren beenden oder ob er seinen Einspruch nur inhaltlich einschränken und das Einspruchsverfahren aber im Übrigen fortgesetzt haben möchte. Ist dies der Erklärung nicht klar und eindeutig zu entnehmen, ist sie jedenfalls als Einspruchsrücknahme unwirksam.
Rz. 57
Durch die Einspruchsrücknahme fällt die durch die Einspruchseinlegung begründete Anhängigkeit des Einspruchsverfahrens weg. Der Finanzbehörde wird damit die Entscheidungsbefugnis über den – nun nicht mehr anhängigen – Einspruch entzogen, sodass sie keine Entscheidung über den Einspruch mehr treffen darf. Insbesondere ist durch die Rücknahme eine verbösernde Entscheidung des angefochtenen Verwaltungsakts durch die Finanzbehörde ausgeschlossen.
Rz. 58
Eine Einspruchsentscheidung, die die Finanzbehörde nach der wirksamen Rücknahme des Einspruchs dennoch erlässt, ist jedoch – entgegen der wohl überwiegenden Auffassung in der Kommentarliteratur – nicht nichtig. Sie ist lediglich rechtswidrig und daher zum Zwecke ihrer Beseitigung mit der Klage anzufechten. Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Auch wenn man mit Jesse die Auffassung vertritt, dass der Erlass einer Einspruchsentscheidung bzw. einer verbösernden Entscheidung ohne zugrunde liegenden Einspruch einen schwerwiegenden Fehler darstellt, ist dennoch Birkenfeld darin beizupflichten, dass es an der Offenkundigkeit der Unwirksamkeit der nach einer wirksamen Rücknahme erlassenen Einspruchsentscheidung mangelt.
Rz. 59
Der Wegfall der Anhängigkeit des Einspruchsverfahrens durch die Rücknahme geschieht – anders als dies bei einer Klagerücknahme für das Klageverfahren angenommen wird – erst mit dem Eingang der wirksamen Rücknahmeerklärung bei der Einlegungsbehörde ("ex nunc") und nicht rückwirkend. Zu diesem Zeitpunkt endet die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3a AO. Gleichzeit entfällt eine dem Einspruchsführer nach § 361 AO gewährte Aussetzung der Vollziehung ohne weitere Voraussetzungen, insbesondere ohne dass es einer gesonderten Aufhebung der Aussetzungsverfügung bedarf. Ein noch nicht beschiedener Antrag auf Aussetzung der Vollziehung kann – nach Eintritt der Bestandskraft des mit dem zurückgenommenen Einspruch angefochtenen Verwaltungsakts – nicht zum Erfolg führen und ist als unbegründet abzulehnen, wenn er nicht ebenfalls zurückgenommen wird.
Rz. 60
Der vorher angefochtene Verwaltungsakt wird nach der Rücknahme bestandskräftig, sobald die Einspruchsfrist abgelaufen ist und bis zu diesem Zeitpunkt kein erneuter Einspruch eingelegt wurde. Eine Änderung oder Aufhebung des Verwaltungsakts kann dann nur noch im Rahmen der §§ 129ff.,164f. und 172ff. AO oder entsprechender Vorschriften erfolgen. Wegen dieser eingeschränkten Änderbarkeit des Verwaltungsakts sollte der Einspruch bei einer "Verständigung" mit der Finanzbehörde nicht schon auf die Ankündigung der Änderung hin zurückgenommen werden, sondern erst nach Ergehen des Änderungsbescheids.
Rz. 61
Nach einer im Rahmen des § 362 Abs. 1a AO erfolgten wirksamen Teilrücknahme tritt hinsichtlich der für das Verständigungs- und Schlichtungsverfahren bedeutsamen Besteuerungsgrundlagen eine Teilbestandskraft ein. Eine Änderung oder Aufhebung des infolge der Teilrücknahme teilweise bestandskräftigen Steuerbescheids zur Umsetzung der Verständigungsvereinbarung oder des Schiedsspr...