Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
9.3.4.1 Grundlagen
Rz. 228
Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Dieses Prozessgrundrecht fordert – nicht zuletzt auch im Interesse des Betroffenen – eine angemessene Beschleunigung des Verfahrens. Jeder Angeklagte hat ein Recht auf Durchführung des Strafverfahrens in angemessener Zeit.
Rz. 229
Eine unangemessene Verzögerung der Verurteilung führt regelmäßig zur Strafmilderung. Dies kann bei sehr großem Ausmaß der Verzögerung sogar bis zu einer Einstellung des Verfahrens führen. Zur strafmildernden Wirkung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel im Bereich schwerer sozialschädlicher Wirtschaftskriminalität s. BGH v. 29.11.2006, 5 StR 324/06, BFH/NV Beilage 2007, 261; vgl.BGH v. 8.8.2006, 5 StR 189/06, BFH/NV Beilage 2007, 260.
Rz. 230
Die aus der Verfahrensverzögerung resultierende Strafmilderung ist vom Gericht im Vergleich mit der ohne Berücksichtigung dieses Strafmilderungsgrunds angemessenen Strafe exakt zu bestimmen und darzulegen, sodass der Umfang der Kompensation im Rechtsmittelverfahren nachprüfbar ist. Bei einer Gesamtstrafe – s. Rz. 194 – hat dies konkret für jede Einzelstrafe zu erfolgen.
9.3.4.2 Strafmilderungsgründe
9.3.4.2.1 Zeitdauer zwischen Tat und Urteil
Rz. 231
Ein außergewöhnlich langer zeitlicher Abstand, der zwischen Tat und Urteil liegt, ist ein selbstständiger Strafmilderungsgrund, der unabhängig von der überlangen Verfahrensdauer (s. Rz. 233) besteht:
Rz. 232
- BGH v. 6.9.1988, 1 StR 473/88, NJW 1990, 57: Ein Zeitraum von 6 Jahren zwischen Beendigung der Tat und ihrer Aburteilung ist strafmildernd zu berücksichtigen.
- BayObLG v. 11.7.1994, 2 St RR 63/94, wistra 1994, 352: Ein Zeitraum von 2 Jahren und 2 Monaten führt nicht zur Strafmilderung.
9.3.4.2.2 Überlange Verfahrensdauer
Rz. 233
Unabhängig von den aus dem zeitlichen Abstand zwischen der Tat und dem Urteil resultierenden Strafmilderungsgrund (s. Rz. 231) kommt einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer eine eigenständige Bedeutung zu. Hierin liegt eine rechtsstaatswidrige Verletzung des Beschleunigungsgebots (s. Rz. 228). Zweck dieses selbstständigen Strafzumessungsgrunds ist letztlich, eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK (s. Rz. 237) zu verhindern.
Rz. 234
Dieser Strafmilderungsgrund resultiert aus der psychischen Belastung, die dem Tatbeteiligten durch das Verfahren erwächst. Die Belastung kommt einer zusätzlichen Sanktion gleich, insbesondere wenn sie durch die Strafverfolgungsorgane verursacht worden ist. Allerdings kann dieser Strafzumessungsgrund auch eingreifen, wenn für die Dauer des Verfahrens sachliche Gründe gegeben sind, die von den Strafverfolgungsorganen nicht zu vertreten sind (s. Rz. 239).
Rz. 235
Welche Dauer für die Abwicklung des Strafverfahrens angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Bei der Fristbestimmung sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeiten des Verfahrens sowie Art und Weise der Ermittlungen zu berücksichtigen.
Das Verbot der überlangen Verfahrensdauer betrifft nur das Strafverfahren. Dieses beginnt spätestens in dem Zeitpunkt, in dem dem Beschuldigten die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt gegeben worden ist, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens. Unter diesem Gesichtspunkt muss das Revisionsgericht auch prüfen, ob es die Sache noch vertretbar zurückweisen kann oder selbst entscheiden muss:
Rz. 236
- BGH v. 2.10.1983, 2 StR 413/83, wistra 1983, 255: Ein mehr als 3-jähriger Zeitraum nach Aufhebung durch den BGH bis zur zweiten landgerichtlichen Entscheidung ist unangemessen.
- BVerfG v. 19.4.1993, 2 BvR 1487/90, wistra 1993, 219: 10 Jahre und 2 Monate sind schon für sich unangemessen.
- BGH v. 21.7.1994, 1 StR 396/94, wistra 1994, 344: 2 Jahre und 3 Monate Verweildauer bei der Strafkammer sind ...