Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
Rz. 237
Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK garantiert jedem Beschuldigten die gerichtliche Entscheidung über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage innerhalb einer angemessenen Frist. Art. 6 MRK verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, die Gerichtsorganisation so einzurichten, dass eine Verletzung unterbleibt. Die Verletzung dieses Rechts führt nicht zur Unzulässigkeit der Strafverfolgung (Rspr. in Rz. 229).
Rz. 238
Die Verletzung des durch Art. 6 MRK artikulierten Beschleunigungsgebots ist ein selbstständiger Strafmilderungsgrund, der aber im Rahmen der allgemeinen Rechtsbehelfe gesondert gerügt werden muss. Die Verletzung eröffnet letztlich die Individualbeschwerde nach Art. 25 MRK zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Verletzung eröffnet nicht die Beschwerde zum BVerfG, da die MRK keine Verfassungsqualität, sondern nur den Rechtscharakter einfachen Bundesrechts hat.
Rz. 239
Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK betrifft lediglich Verfahrensverzögerungen der Strafverfolgungsorgane. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist nicht von einem Verschulden des Strafverfolgungsorgans abhängig.
Verfahrensverzögerungen durch den Tatbeteiligten selbst sind i. d. R. auch dann nicht geeignet, eine rechtsverletzende überlange Verfahrensdauer zu begründen, wenn sie auf zulässigem Prozessverhalten beruhen.
Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK betrifft nur rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen. Allein die Verfahrensverlängerungen, die Ausfluss einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems (s. zum Instanzenzug § 391 AO Rz. 7) sind, begründen keinen Verstoß gegen Art. 6 MRK.
Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (s. Rz. 239) kann in außergewöhnlichen Fällen, wenn eine Strafmilderung nicht ausreichend ist, auch zu einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernis führen. Die Notwendigkeit der Kompensation bezieht sich bei mehreren selbstständigen Taten (s. Rz. 192) nicht nur auf die Findung der angemessenen Gesamtstrafe, sondern auch auf die Festsetzung der Einzelstrafen. Das Gericht hat das Maß der für die Verfahrensverzögerung zugebilligten Kompensation genau zu bestimmen.
Rz. 239a
Welche Dauer für die Abwicklung des Strafverfahrens angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Das Gericht hat zu prüfen, ob die Sache insgesamt nicht in angemessener Frist verhandelt worden ist, wobei eine gewisse Untätigkeit innerhalb eines einzelnen Verfahrensabschnitts dann nicht zu einer Verletzung der konventionsrechtlichen Gewährleistung führt, wenn dadurch die Gesamtdauer des Verfahrens nicht unangemessen lang wird. Die angemessene Frist i. S. d. Konvention beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird. Sie endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.
Neben der Dauer der Frist sind die Schwere des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen, das eigene Verhalten des Beschuldigten und die für ihn durch die Fortdauer des Verfahrens entstehenden Belastungen zu berücksichtigen. Darüber hinaus sind auch anderweitige Belastungen der Strafkammer und die gerade in Wirtschaftsstrafverfahren erforderlichen umfangreichen Zeiten zur Vorbereitung und Terminierung zu beachten.
Zur Aktenvorlage beim BGH erst ein Jahr nach Eingang der Sachrüge beim LG s. BGH v. 26.9.2002, 5 StR 406/02, wistra 2002, 464.