2.2.3.3.1 Allgemeines
Rz. 102
Nach § 371 Abs. 1 AO ist die Straffreiheit nur zu erlangen, wenn die für die Selbstanzeigeerklärung erforderlichen Angaben (Rz. 102ff.) zu allen im Zeitpunkt der Erklärungsabgabe unverjährten Steuerstraftaten der jeweiligen Steuerart vollständig gemacht werden und dabei zumindest die letzten zehn Jahre erfassen. Da im Rahmen des § 371 AO die Tat im strafrechtlichen bzw. materiellen Sinne den Anknüpfungspunkt bildet, hat der Gesetzgeber somit mehrere Taten zu einem sog. "Berichtigungsverbund" zusammengefügt. Insoweit unvollständige Selbstanzeigen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht wirksam sein und daher auch nicht zum "Abschluss von Verfahren" führen.
Rz. 103
Steuerstraftaten i. d. S. sind nur Steuerhinterziehungen nach § 370 AO (Rz. 28ff.), unabhängig davon, in welchem Rechtsverhältnis die Taten zueinander stehen.
Rz. 104
Eine Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot ergibt sich jedoch durch die seit dem 1.1.2015 geltende Fassung des § 371 AO im Hinblick auf die Einschränkung der Sperrgründe des § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 1a und 1c AO, da eine wirksame Selbstanzeige für die nicht gesperrten Zeiträume keine Angaben zu den gesperrten Jahren enthalten muss, wenn auch in diesen Jahren Steuern hinterzogen wurden. Anderenfalls käme es dazu, dass der Stpfl. Angaben zu Taten machen müsste, bzgl. derer keine Straffreiheit eintreten kann – ein Ergebnis, das nicht mit dem Rechtsgedanken des § 393 Abs. 1 S. 2 AO und dem Schutz vor Selbstbelastung im Strafverfahren vereinbar wäre (vgl. Rz. 181, 224.).
2.2.3.3.2 Steuerart
Rz. 105
Der Inhalt der Selbstanzeigeerklärung hat sich auf alle unverjährten Steuerhinterziehungen einer Steuerart zu erstrecken. Der Begriff der Steuerart ist in § 371 Abs. 1 AO nicht näher definiert. Der Gesetzgeber benutzte in den Materialien die Formulierungen "einzelne hinterzogene Steuer" bzw. "verkürzte Steuer" und stellt auf das Beispiel "Einkommensteuer" ab. Es besteht insoweit weitgehende Einigkeit, dass sich die Steuerart aus dem jeweiligen Steuergesetz ergibt, aus dem der durch die Steuerhinterziehung angegriffene oder verletzte Steueranspruch folgt. Mithin handelt es sich z. B. bei der Einkommen-, der Umsatz-, der Körperschaft-, der Gewerbe- sowie der Erbschaft- und Schenkungsteuer um unterschiedliche Steuerarten. Auch bei dem Solidaritätszuschlag dürfte es sich um eine eigene Steuerart handeln, da er zwar an der festgesetzten Einkommen- und KSt anknüpft und folglich nicht selbstständig hinterziehbar ist, aber er in einem eigenständigen Gesetz, dem Solidaritätszuschlaggesetz geregelt ist. Insoweit ist allerdings die Besonderheit zu berücksichtigen, dass der Solidaritätszuschlag einen Annex zur Einkommensteuer darstellt, im Rahmen des § 371 Abs. 1 S. 1 AO hingegen nur die Besteuerungsgrundlagen nachzuerklären sind. Folglich bedarf der Solidaritätszuschlag keiner gesonderten Nacherklärung.
Gesetze wie z. B. das Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen (AStG), das Investmentsteuergesetz (InvStG) oder das Umwandlungssteuergesetz (UmwStG) begründen hingegen keine eigene Steuerart.
Rz. 105a
Insoweit darf allerdings nicht verkannt werden, dass die Orientierung am jeweiligen Steuergesetz – zugunsten der Praktikabilität – mitunter vielleicht zu sehr vereinfacht. Dies kann verdeutlicht werden an der Bauabzugsteuer i. S. d. § 48 EStG.
Ausgehend von der Rechtsprechung des BFH könnte es angezeigt sein, die Bauabzugssteuer trotz ihrer Regelung im EStG als eigenständige Steuerart einzustufen. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass nach Auffassung des BFH keine Akzessorietät der Bauabzugsteuer zur Körperschaftsteuerschuld des Bauleistenden besteht und es andererseits auch nicht auf die Steuerpflicht der Einkünfte des Bauleistenden in Deutschland ankommt.
Rz. 106
Für den Bereich der ESt ergibt sich aus der Orientierung am jeweiligen Steuergesetz, dass in der Selbstanzeige alle Einkunftsarten unabhängig von deren Erhebungsform vollständig erklärt werden müssen. Dementsprechend sind auch Kapitalerträge mit Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 6 EStG im Hinblick auf die Vollständigkeit der Selbstanzeige einheitlich im Rahmen der ESt mit zu erklären, unabhängig davon, ob sie aufgrund der Subsidiaritätsklausel des Abs. 8 einer anderen Steuerart zuzuordnen sind.
Eine Beschränkung dahingehend, dass sich die Steuerart nur auf dieselbe Steuerart ein- und desselben Stpfl. bezieht, ist nach dem klaren Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO nicht angezeigt. Folglich ist eine Selbstanzeige z. B. nur vollständig, wenn der Täter sowohl die Hinterziehung der von ihm selbst geschuldeten ESt als auch die Teilnahme an der Einkommensteuerhinterziehung an...