Rz. 173
Die für eine Rechtsfortbildung erforderliche Regelungslücke ist gegeben, wenn das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und der ihm immanenten Teleologie, planwidrig unvollständig ist. In diesem Fall ist zwar ein bestimmter Sachbereich gesetzlich geregelt; es fehlt jedoch eine Vorschrift für Fälle, die nach Grundgedanken und System des Gesetzes hätten mitgeregelt werden müssen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Überprüfung des Gesetzes unter Heranziehung aller Regeln zur Auslegung (s. Rz. 135 ff.) ergibt, dass die Norm gemessen an ihrem Zweck unvollständig (ergänzungsbedürftig) ist. Die Unvollständigkeit der Norm erschließt sich aus ihrem gesetzesimmanenten Zweck und kann auch bei einem eindeutigen Wortlaut vorliegen. Keine Lücke besteht bei einer vom Gesetzgeber getroffenen erschöpfenden Regelung, so z. B. bei einer gesetzlich gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände, die zu dem Umkehrschluss zwingt, dass die von ihr nicht erfassten Fälle der Regelung auch nicht unterliegen sollen.
Rz. 174
Zu unterscheiden sind die offenen Lücken einerseits und die verdeckten Lücken andererseits.
Eine offene Regelungslücke liegt vor, wenn das Gesetz für einen Lebenssachverhalt keine Regelung enthält, obwohl auch für diesen Fall wegen der Vergleichbarkeit mit anderen geregelten Lebenssachverhalten eine Regelung hätte getroffen werden müssen. Das kann auf dem Vergessen oder Übersehen des ungeregelt gebliebenen Lebenssachverhalts bei der Schaffung der Norm beruhen. Die Regelung kann auch deshalb unterlassen worden sein, weil bei Schaffung der Norm der zu beurteilende Lebenssachverhalt noch nicht auftrat oder bekannt war. Schließlich kann die Lücke auch absichtlich gelassen worden sein, um deren Ausfüllung der Rspr. zu überlassen.
Eine verdeckte Regelungslücke ist gegeben, wenn das Gesetz eine Regelung enthält, deren Wortlaut dem Anwendungsumfang nach über das Ziel der Vorschrift hinausgeht. Eine an sich notwendig gewesene Einschränkung ist bei der Fassung der Norm unterblieben.
Rz. 175
Eine Regelungslücke kann sich schließlich unter der dem Gesichtspunkt einer "Auslegung gegen das Gesetz" (dazu schon Rz. 168) daraus ergeben, dass die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde, das durch die beabsichtigte Auslegung zu vermeiden oder doch entscheidend zu mindern wäre, ohne andere Wertungswidersprüche hervorzurufen. Allerdings rechtfertigt eine Änderung allein der tatsächlichen Verhältnisse oder der Rechtsüberzeugung gegenüber der Zeit der Entstehung der Norm eine solche Auslegung grundsätzlich nicht. In einem solchen Fall ist es dem Gesetzgeber überlassen, das Gesetz zu ändern.