1.6.2.1 Verhältnis zum primären Unionsrecht
Rz. 19
Auch in den nicht harmonisierten Bereichen des Steuerrechts sind bei Anwendung des § 42 AO auf grenzüberschreitende Gestaltungen unter Beteiligung von Mitgliedstaaten der EU oder Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) v. 2.5.1992 die durch den AEUV bzw. das EWR-Abkommen gewährleisteten Grundfreiheiten zu beachten. Dies gilt insbesondere für die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit.
Nach der Rspr. des EuGH stellen steuerrechtliche Regelungen der Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten, die geeignet sind, die Ausübung dieser Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu gestalten, eine Beschränkung dieser Grundfreiheiten dar, die nur zulässig ist, wenn sie ein mit dem Europäischen Recht zu vereinbarendes Ziel verfolgt und durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
Als zwingenden Grund des Allgemeininteresses erkennt der EuGH die Verhinderung von Missbräuchen an, die darin bestehen, durch rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen der normalerweise geschuldeten Steuer zu entgehen.
1.6.2.2 Verhältnis zum sekundären Unionsrecht
Rz. 20
Die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie, durch die das Umsatzsteuerrecht innerhalb der EU weitgehend harmonisiert worden ist, ermächtigt die Mitgliedsstaaten in mehreren Vorschriften, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen sowie Missbrauch zu verhindern. Dementsprechend ist § 42 AO auch im Umsatzsteuerrecht anwendbar. Die Vorschrift normiert einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der nach der Rspr. des EuGH auch im Mehrwertsteuerrecht gilt. Danach liegt ein Missbrauch vor, wenn die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der MwStSystRL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
Rz. 21
Auch die Fusionsrichtlinie, die Mutter-Tochter-Richtlinie und die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie, die punktuelle Regelungen zur Harmonisierung der direkten Steuern enthalten, stehen unter dem Vorbehalt nationaler Missbrauchsregelungen.
Rz. 22
Die Richtlinie mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 12.7.2016, die für alle Stpfl. gilt, die in einem oder mehreren Mitgliedsstaaten körperschaftsteuerpflichtig sind, und nach der Abkürzung ihrer englischsprachigen Bezeichnung "Anti Tax Avoidance Directive" allgemein als ATAD bezeichnet wird, enthält in Art. 6 eine allgemeine Missbrauchsvorschrift, die von den Mitgliedsstaaten bis zum 31.1.2018 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen war. Die Vorschrift, die nicht nur auf grenzüberschreitende, sondern auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar ist, lautet wie folgt:
"Artikel 6 Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch
(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.
(2) Für die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.
(3) Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht ber...