2.1 Überblick
Rz. 30
Abs. 1 S. 1 enthält insofern die "Kernaussage der Generalklausel", als er das Regelungsziel der Vorschrift ("Durch Missbrauch ... kann ... nicht umgangen werden") formuliert, das Mittel der Umgehung ("Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts") beschreibt und den Gegenstand der Umgehung ("das Steuergesetz") bezeichnet.
Keine Aussage trifft Abs. 1 S. 1 dazu, auf welche Weise die Umgehung des Steuergesetzes zu verhindern ist. Die darauf gerichteten Rechtsfolgenanordnungen finden sich erst in den beiden folgenden Sätzen des Abs. 1. Die nähere Definition dessen, was unter einem "Missbrauch" zu verstehen ist, ergibt sich aus Abs. 2.
2.2 Steuergesetz
Rz. 31
Der Begriff des Steuergesetzes ist im Einklang mit § 4 AO zu bestimmen. Danach ist unter "Gesetz" jede Rechtsnorm zu verstehen. Gesetze sind somit nicht nur die Gesetze im formellen Sinne, sondern auch die Gesetze im materiellen Sinne, insbesondere Rechtsverordnungen, autonome Satzungen und im innerstaatlichen Recht unmittelbar anwendbare Vorschriften des Rechts der Europäischen Union.
Um ein Steuergesetz handelt es sich, wenn das Gesetz Steuern oder steuerliche Nebenleistungen i. S. v. § 3 AO regelt. Steuergesetze sind auch solche Normen, die Erstattungs- und Vergütungsansprüche begründen oder Steuerbefreiungen und -vergünstigungen gewähren.
Gegenstand einer Umgehung kann ein Steuergesetz nur in seinem zeitlichen Anwendungsbereich sein. Eine Umgehung künftiger Steuergesetze ist nur möglich, wenn sich diese zulässigerweise rückwirkende Kraft beilegen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob eine früher gewählte Gestaltung mit Wirksamwerden einer Rechtsänderung zu einer Umgehung des Gesetzes führen kann.
2.3 Umgehung
Rz. 32
Die Steuerumgehung ist ein Unterfall der Gesetzesumgehung. Sie besteht in einem Verhalten, das nach dem Wortlaut des Gesetzes andere Rechtsfolgen hat als dem Zweck des Gesetzes entspricht, Ein belastendes Steuergesetz wird dadurch umgangen, dass ein Sachverhalt so gestaltet wird, dass er den Tatbestand des Gesetzes nicht erfüllt, obwohl die darin vorgesehene Rechtsfolge nach dem Zweck der gesetzlichen Regelung eintreten müsste. Ein begünstigendes Steuergesetz wird dadurch umgangen, dass ein Sachverhalt so gestaltet wird, dass er den Tatbestand des Gesetzes erfüllt, obwohl er nicht dem Zweck entspricht, den das Gesetz mit der Begünstigung verfolgt. Im ersten Fall wird von einer Tatbestandsvermeidung, im zweiten Fall von einer Tatbestandserschleichung gesprochen.
Rz. 33
Keine Umgehungsmöglichkeit besteht, wenn der Steuertatbestand keinen wirtschaftlichen Vorgang erfassen soll, sondern ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen allein an rechtliche Verhältnisse anknüpft. Sind Merkmal des Steuertatbestands z. B. familienrechtliche Beziehungen (Bestehen einer Ehe oder eines Verwandtschaftsverhältnisses) oder die Existenz einer juristischen Person, ist für die Anwendung des § 42 AO kein Raum.
- Eine bürgerlich-rechtlich wirksame Ehe ist bei der Erbschaftsteuer auch dann für die Bestimmung der Steuerklasse und die Gewährung des Freibetrags maßgeblich, wenn sie allein zum Zweck der Steuerersparnis geschlossen wurde.
- Der Abzug des Gewerbeverlusts nach § 10a GewStG setzt bei Kapitalgesellschaften keine Unternehmensgleichheit voraus.
- Eine GmbH & Co. KG unterliegt auch dann nicht als Kapitalgesellschaft i. S. v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG der Körperschaftsteuer, wenn die Rechtsform der Personengesellschaft dazu bestimmt ist, die persönliche Einkommensteuer der Gesellschafter durch Zuweisung von Verlustanteilen zu mindern.
- Die Rechtswahl einer gewerblich geprägten Personengesellschaft i. S. v. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG ist für die Qualifikation der von ihr erzielten Einkünfte unabhängig von den damit verfolgten steuerlichen Zwecken maßgebend.