5.1 Überblick über Abs. 2
Rz. 70
Der durch das JStG 2008 neu gefasste Abs. 2 enthält erstmals eine gesetzliche Definition des Missbrauchsbegriffs, die inhaltlich allerdings nicht über die in der höchstrichterlichen Rspr. entwickelten und seit vielen Jahrzehnten angewandten Merkmale hinausgeht. Das in der Begründung des RegE des JStG 2008 formulierte Ziel, der aus Sicht des Gesetzgebers zu kasuistischen Anwendungspraxis bei § 42 AO entgegenzutreten, die Vorschrift im Interesse der Gleichmäßigkeit, aber auch der Rechtssicherheit der Besteuerung präziser zu fassen und ihre Anwendung dadurch effektiver zu gestalten, hat die Gesetzesänderung damit nicht erreicht. Dies kann aber nicht verwundern, weil sich die den Missbrauchsbegriff bestimmenden Merkmale der Unangemessenheit der rechtlichen Gestaltung und des gesetzlichen Nichtvorgesehenseins eines sich daraus ergebenden Steuervorteils einer allgemeingültigen Definition entziehen und nur im Einzelfall feststellen lassen.
Abs. 2 teilt die Definition des Missbrauchsbegriffs in zwei Sätze auf. S. 1 umschreibt die positiven Merkmale des Missbrauchsbegriffs. S. 2 formuliert die Voraussetzungen, unter denen trotz Erfüllung der Merkmale des S. 1 kein Missbrauch vorliegt. Diese Aufteilung dürfte im Zusammenhang damit stehen, dass der Gesetzgeber dem Stpfl. in S. 2 den Nachweis der negativen Tatbestandsmerkmale auferlegt.
5.2 Positive Merkmale des Missbrauchsbegriffs (Abs. 2 S. 1)
5.2.1 Unangemessene rechtliche Gestaltung
5.2.1.1 Rechtliche Gestaltung
Rz. 71
Gegenstand der Angemessenheitsprüfung ist eine rechtliche Gestaltung. Darunter ist der rechtliche Zustand zu verstehen, der unter Ausnutzung von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts herbeigeführt worden ist.
Die Herbeiführung dieses Zustands muss nicht notwendigerweise in einem Schritt erfolgen, sondern kann auch das Ergebnis mehrerer aufeinander folgender Gestaltungsakte bilden. Nach der sog. Gesamtplanrechtsprechung des BFH kann eine auf einheitlicher Planung beruhende und in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehende Mehrzahl von Rechtsgeschäften für die steuerliche Beurteilung mit der Folge zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang zusammenzufassen sein, dass die Angemessenheitsprüfung nicht auf die Ergebnisse der einzelnen Teilakte, sondern auf den durch ihr Zusammenwirken herbeigeführten Endzustand zu beziehen ist. Allerdings gibt es keinen allgemeingültigen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass eine aufgrund einheitlicher Planung in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehende Mehrzahl von Rechtsgeschäften für die steuerliche Beurteilung zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang zusammenzufassen ist. Vielmehr kann im konkreten Einzelfall lediglich Anlass zu der Prüfung bestehen, ob die Voraussetzungen eines Gestaltungsmissbrauchs nach § 42 AO vorliegen oder ob eine Norm des materiellen Steuerrechts teleologisch dahingehend auszulegen ist, dass sie auf einen bestimmten Lebenssachverhalt nicht angewendet wird, obwohl der Tatbestand der Norm dem Wortlaut nach verwirklicht ist. Grundlage der Steuerrechtsanwendung ist dabei jeweils die zivilrechtliche Gestaltung. Ein daneben bestehendes oder darüber hinausgehendes Rechtsinstitut eines "Gesamtplans" gibt es nicht. Ein Gesamtplan ist zu verneinen, wenn es wirtschaftliche Gründe für die einzelnen Teilakte gibt und diese nicht lediglich dazu bestimmt sind, die Erreichung des Endzustands zu fördern.
5.2.1.2 Unangemessenheit der rechtlichen Gestaltung
Rz. 72
Der Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten setzt eine unangemessene rechtliche Gestaltung voraus. Auf eine nähere Umschreibung dieses Begriffs hat der Gesetzgeber in der wohl richtigen Erkenntnis verzichtet, dass dies nur unter Verwendung von Rechtsbegriffen möglich wäre, die ihrerseits ebenso unbestimmt und ausfüllungsbedürftig sein müssten wie der dadurch zu definierende Begriff selbst.
Rz. 73
Bis zur Neufassung des § 42 AO durch das JStG 2008 tauchte der Begriff "unangemessen" im Gesetzestext nicht auf. In der Rspr. des BFH wurde die Unangemessenheit der gewählten Gestaltung aber von jeher als Abgrenzungsmerkmal zwischen dem zulässigen Gebrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Ziel, keine oder möglichst geringe Steuern zu zahlen, und ihrem unzulässigen Missbrauch angesehen. Dabei wurde die Unangemessenheit zunächst allein aus dem Verhältnis der Gestaltung zu dem mit ihr erstrebten Zweck abgeleitet. Die Rechtsgestaltung wurde als unangemessen angesehen, wenn verständige Parteien in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhalts und der wirtschaftlichen Zielsetzung nicht in der gewählten Weise verfahren wären. Später kam die bis heute...