Rz. 72

Der Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten setzt eine unangemessene rechtliche Gestaltung voraus. Auf eine nähere Umschreibung dieses Begriffs hat der Gesetzgeber in der wohl richtigen Erkenntnis verzichtet, dass dies nur unter Verwendung von Rechtsbegriffen möglich wäre, die ihrerseits ebenso unbestimmt und ausfüllungsbedürftig sein müssten wie der dadurch zu definierende Begriff selbst.[1]

 

Rz. 73

Bis zur Neufassung des § 42 AO durch das JStG 2008 tauchte der Begriff "unangemessen" im Gesetzestext nicht auf. In der Rspr. des BFH wurde die Unangemessenheit der gewählten Gestaltung aber von jeher als Abgrenzungsmerkmal zwischen dem zulässigen Gebrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten mit dem Ziel, keine oder möglichst geringe Steuern zu zahlen, und ihrem unzulässigen Missbrauch angesehen. Dabei wurde die Unangemessenheit zunächst allein aus dem Verhältnis der Gestaltung zu dem mit ihr erstrebten Zweck abgeleitet.[2] Die Rechtsgestaltung wurde als unangemessen angesehen, wenn verständige Parteien in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhalts und der wirtschaftlichen Zielsetzung nicht in der gewählten Weise verfahren wären.[3] Später kam die bis heute geläufige Formel in Gebrauch, dass eine rechtliche Gestaltung (erst) dann unangemessen sei, wenn der Stpfl. nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels gebrauche, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wähle, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein solle.[4] Damit wurde der in älteren Entscheidungen im Rahmen einer Gesamtbeurteilung herangezogene Gesichtspunkt, dass der Stpfl. nicht die vom Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der Verkehrsauffassung für typisch gehaltene Gestaltung zum Erreichen bestimmter wirtschaftlicher Ziele gebraucht habe[5], auf das Einzelmerkmal der Unangemessenheit bezogen. Daran hat der BFH in einer zur Neufassung des § 42 AO ergangenen Entscheidung[6] festgehalten.

 

Rz. 74

Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass sich der normative Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit nicht aus § 42 AO selbst ergebe, sondern dem potentiell umgangenen Steuergesetz entnommen werden müsse.[7] Daraus wird eine dreistufige Prüfungsreihenfolge abgeleitet, auf deren letzter Stufe zu beurteilen sein soll, ob es dem Sinn und Zweck sowie den Wertungen des umgangenen Steuergesetzes entspricht, dass die gewählte Gestaltung andere Auswirkungen auf die Erfüllung seines Tatbestands hat als alternativ in Betracht kommende Gestaltungen.[8]

 

Rz. 75

Damit wird der Begriff der Unangemessenheit unnötig überfrachtet. Die Frage, ob das mit der Gestaltung verfolgte Ziel nach dem Willen des Gesetzgebers auf dem gewählten Weg erreichbar sein soll und der Eintritt der sich aus ihr ergebenden Rechtsfolgen dem Sinn und Zweck sowie den Wertungen des Gesetzes entspricht, betrifft nicht die Angemessenheit der Gestaltung, sondern die Frage, ob der sich aus ihr ergebende Steuervorteil gesetzlich nicht vorgesehen ist (s. Rz. 84). Würde dieses Kriterium zugleich den Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit der Gestaltung bilden[9], hätte das Merkmal der Angemessenheit überhaupt keine selbständige Bedeutung mehr.

Der Begriff der Angemessenheit ist deshalb – ausschließlich – im Sinne einer Mittel-Zweck-Relation zu verstehen, deren Bezugspunkt die in der Rechtsfolgenanordnung des § 42 Abs. 1 S. 3 AO genannten "wirtschaftlichen Vorgänge" sind.[10]

 

Rz. 76

Das Urteil über die Angemessenheit einer Gestaltung setzt die Identifikation des mit ihr verfolgten wirtschaftlichen Ziels voraus. Eine Gestaltung, die überhaupt keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgt, ist von vornherein als unangemessen anzusehen.[11] So verhält es sich z. B., wenn sich mehrere Geschäfte wirtschaftlich gegenseitig neutralisieren oder wenn die Gestaltung in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen durch eine gegenläufige Gestaltung kompensiert wird und sich deshalb im Ergebnis als lediglich formale Maßnahme erweist.[12] Der mit der Gestaltung verfolgte Zweck muss objektiv, d. h. intersubjektiv nachprüfbar, feststehen.[13]

Steht fest, dass die Gestaltung einen wirtschaftlichen Zweck verfolgt, ist dieser selbst nicht Gegenstand der rechtlichen Beurteilung.[14] So steht es dem Stpfl. z. B. frei, zwischen Eigenkapital- und Fremdkapitalfinanzierung zu wählen.[15]

 

Rz. 77

Zur Beurteilung der Angemessenheit ist die gewählte Gestaltung ins Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Zweck zu setzen und mit anderen zur Erreichung dieses Zwecks geeigneten Gestaltungen zu vergleichen. Angemessene Gestaltungen gehen ihr Ziel zumeist auf einem geraden Weg an. Sie sind einfach, übersichtlich, zweckmäßig und kostengünstig. Demgegenüber verfolgen unangemessene Gestaltungen ihr Ziel häufig auf verschlungenen Pfaden. Sie sind kompliziert, unübersichtlich, unzweckmäßig und kostspielig. Typischerweise sind sie nicht der ehrliche Ausdruck des mit ihnen Gewollten, sondern schaffen wirtschaftlich einen anderen Tatbesta...

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