Rz. 63
Der Grundsatz des § 85 S. 1 AO, dass die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben sind, gilt auch in Fällen der Gesamtschuld. Bei mehreren Steuerschuldnern hat die Finanzbehörde die Steuer zumindest einem gegenüber festzusetzen. Ein Entschließungsermessen steht ihr insoweit nicht zu. Sie darf von der Abgabenfestsetzung gegen einen Schuldner auch nicht deshalb absehen, weil es vor Ablauf der Festsetzungsfrist versäumt wurde, eine andere, ebenfalls als Schuldner in Betracht kommende Person in Anspruch zu nehmen. Nur bei der Entscheidung darüber, welchen von mehreren Steuerschuldnern sie in Anspruch nimmt, steht der Finanzbehörde ein Auswahlermessen zu.
Bei der Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern steht der Finanzbehörde nach dem Wortlaut des § 191 Abs. 1 AO ("kann durch Haftungsbescheid [...] in Anspruch genommen werden") hingegen ein Entschließungs- und Auswahlermessen zu. Sie kann daher auf die Inanspruchnahme der für die Steuerschuld Haftenden ganz verzichten oder nur einzelne von mehreren Haftenden ganz oder teilweise in Anspruch nehmen.
Rz. 64
Für die Ausübung des Entschließungs- und des Auswahlermessens gelten die üblichen Grundsätze. Bei der Ausübung des Auswahlermessens zwischen mehreren Steuerschuldnern hat das FA eine im Innenverhältnis getroffene Regelung zu beachten. Im Fall der Grunderwerbsteuer hat es daher vorrangig den Erwerber in Anspruch zu nehmen, wenn dieser sich im Kaufvertrag zur Tragung der Steuer verpflichtet hat. Hat der Schenker im Verhältnis zum Beschenkten die geschuldete Steuer selbst übernommen und war dies dem FA bei Erlass des Schenkungsteuerbescheids bekannt, erfordert die Inanspruchnahme des Bedachten eine Begründung der getroffenen Auswahlentscheidung, es sei denn, die Gründe sind dem Bedachten bekannt oder für ihn ohne weiteres erkennbar. Ansonsten entspricht es dem Wesen der Schenkungsteuer als Bereicherungssteuer, dass sich das FA bei der Anforderung der Steuer grundsätzlich an den Bedachten hält. Die Erbschaftsteuer für den Vorerbfall ist nach dem Tod des Vorerben regelmäßig gegen den Nacherben und nur ausnahmsweise gegen den Erben des Vorerben festzusetzen.
Rz. 65
Bei der Auswahl zwischen mehreren gesamtschuldnerisch verpflichteten Abgabenschuldnern wäre es regelmäßig ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde einen Gesamtschuldner, der sich eine vorsätzliche Steuerstraftat hat zu Schulden kommen lassen, von seiner abgabenrechtlichen Verpflichtung freistellte. Eine Differenzierung nach der Rolle der jeweiligen Beteiligten im Tatgeschehen und dem aus der Tat gezogenen Nutzen ist dabei nicht geboten. Auch dem Umstand, dass der in Anspruch genommene Steuerschuldner möglicherweise Schwierigkeiten haben könnte, die weiteren Gesamtschuldner zivilrechtlich in Regress zu nehmen, kommt in diesem Fall keine Bedeutung zu.
Rz. 66
Der Steuerschuldner ist in der Regel vor dem Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. Im Fall der Lohnsteuer und der Kapitalertragsteuer ist die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers bzw. des Gläubigers der Kapitalerträge als Steuerschuldners anstelle des Entrichtungspflichtigen allerdings nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig. Die Inanspruchnahme eines inländischen Haftungsschuldners bedarf dann keiner besonderen Begründung, wenn ein gegen den Steuerschuldner zu richtender Nachforderungsbescheid im Ausland vollstreckt werden muss.
Rz. 67
Wie bei jeder Ermessensentscheidung müssen die Gründe für die Inanspruchnahme in dem Haftungsbescheid genannt werden, damit der Betroffene die Aussichten eines Rechtsbehelfsverfahrens zutreffend beurteilen kann. Einer Begründung bedarf es allerdings insoweit nicht, als dem Gesamtschuldner die Auffassung der Finanzbehörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder ohne Weiteres einsichtig war.
Rz. 68–69 einstweilen frei