4.1 Allgemeines
Rz. 32
Bei Ermessensentscheidungen können Fehler verschiedenster Art auftreten. Ermessensfehler können auf unzutreffender Gesetzesauslegung, auf Fehlern im Verfahren wie z. B. der unterlassenen Anhörung des Beteiligten nach § 91 Abs. 1 AO vor Erlass eines Haftungsbescheids oder auf unzutreffenden bzw. unzureichenden Sachverhaltsermittlungen (vgl. oben Rz. 27), auf fehlender oder mangelhafter Begründung der Ermessensentscheidung (s. Rz. 48ff.) oder auf dem Unterlassen einer Überprüfung der Ermessensentscheidung bei veränderten Umständen beruhen.
Rz. 33
Die Ermessensfehler lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten systematisieren. Im Hinblick auf die Fassung des § 5 AO kann nach Fehlern durch Verletzung der durch den "Zweck der Ermächtigung" bestimmten inneren Ermessensgrenze einerseits und der durch die Ermächtigungsnorm vorgegebenen "gesetzlichen Grenzen des Ermessens" (äußere Ermessensgrenze) unterschieden werden.
4.2 Verletzung der äußeren Ermessensgrenze
4.2.1 Ermessensüberschreitung
Rz. 34
Eine Ermessensüberschreitung ist gegeben, wenn die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat, indem ihr entweder nach dem vorliegenden Sachverhalt eine Ermessensermächtigung nicht zur Verfügung steht (Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm) oder die gewählte Rechtsfolge von der Ermächtigungsvorschrift nicht gedeckt ist. Die Ermessensüberschreitung liegt also entweder im Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen oder in einer falschen oder zu weitgehenden Rechtsfolge.
Rz. 35
Das Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Ermächtigungsnorm kann darauf zurückzuführen sein, dass die Finanzbehörde einen falschen, unzutreffend oder unzureichend ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt hat (dazu bereits Rz. 27). Ihr kann auch bei einem vollständigen und richtigen Sachverhalt ein Subsumtionsfehler unterlaufen sein.
Rz. 36
Beachtet die Finanzbehörde bei der gesetzten Rechtsfolge nicht die von der Ermächtigungsnorm gesetzten Grenzen, ergibt sich also eine von der Ermächtigung nicht gedeckte Rechtsfolge, ist ebenfalls eine Ermessensüberschreitung gegeben. Das ist z. B. der Fall, wenn entgegen § 146 Abs. 2c AO ein Zwangsgeld von mehr als 25.000 EUR angedroht wird. Die Verwaltung ist im Übrigen bei der Ausübung des ihr für einen Billigkeitserlass eingeräumten Ermessens nicht befugt, aus sozial- und wirtschaftspolitischen Gründen oder zur Wiedergutmachung von Unrecht die gesetzlich geschuldete ESt ganz oder teilweise nicht zu erheben.
4.2.2 Ermessensunterschreitung
Rz. 37
Eine Ermessensunterschreitung liegt vor, wenn die Finanzbehörde das ihr zustehende Ermessen nicht ausübt (sog. Ermessensnichtgebrauch). Dies kann auf der unzutreffenden Auslegung der Ermächtigungsnorm oder darauf beruhen, dass der Finanzbehörde der im Einzelfall eröffnete Ermessensspielraum überhaupt nicht oder hinsichtlich des Umfangs nicht bekannt oder bewusst war oder dass sie sich zu Unrecht durch eine frühere Entscheidung gebunden oder an der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nach § 130 Abs. 1, 2 AO gehindert sah. Die Finanzbehörde verhält sich in diesen Fällen rechtswidrig, weil sie nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, ihren Ermessensspielraum auszuschöpfen. Die Finanzbehörde verletzt das subjektiv-öffentliche Recht des Betroffenen auf volle Ausschöpfung des Ermessensspielraums, wenn sie diese Verpflichtung nicht erfüllt. Ausnahmsweise kann allerdings auch das Nichttätigwerden der Finanzbehörde eine der ihr eingeräumten zutreffenden Wahlmöglichkeiten und damit rechtmäßig sein.
Rz. 38
Bei der Ermessensunterschreitung durch Nichtausschöpfung des Ermessensrahmens ist eine Nachholung der unterlassenen Ermessenserwägungen bis zum Ende des Einspruchsverfahrens möglich und u. U. auch geboten. Ein sog. "Computer-Ermessen" darf das individuelle Ermessen nicht ersetzen. Bereits die maschinelle Vorgabe von Entscheidungsvorschlägen begegnet erheblichen Bedenken.
4.3 Verletzung der inneren Ermessensgrenze
Rz. 39
Hat die Finanzbehörde die äußere Ermessensgrenze eingehalten, also das Vorhandensein eines Ermessensspielraums erkannt und eine vom Gesetz gedeckte ...