Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
Rz. 21
Der Haftungsschuldner wird durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen . Der Haftungsbescheid kann mit einer Zahlungsaufforderung verbunden sein, er kann jedoch auch ohne Zahlungsinanspruchnahme ergehen. Gegen einen Rechtsanwalt, Patentanwalt, Notar, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer darf die Haftung nach § 69 AO erst geltend gemacht werden, wenn zuvor der zuständigen Berufskammer Gelegenheit gegeben worden ist, die aus ihrer Sicht für die Entscheidung bedeutsamen Gesichtspunkte vorzubringen. Dies gilt allerdings nur, wenn die haftungsbegründende Pflichtverletzung in Ausübung des Berufs begangen worden ist. Der Haftungsbescheid muss bestimmt genug sein und die erforderlichen Begründungen enthalten. Vor Ergehen des Haftungsbescheids muss z. B. auch bei LSt-Nachforderungen grundsätzlich der Haftungsbetrag individuell ermittelt werden. Das FA hat die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Haftung festzustellen. Zur Begründung des Haftungsbescheids gehört auch die Feststellung des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit der Pflichtverletzung. Das grobe Verschulden darf nicht einfach unterstellt werden, der Sachverhalt ist von Amts wegen zu ermitteln. U. U. ist eine Schätzung angebracht, die allerdings dem Grunde und der Höhe nach zu begründen ist. Weiter darf das FA (bzw. später das FG) das grobe Verschulden nicht einfach unterstellen, z. B. wenn Zahlungen ausgeblieben sind. Die objektive Beweislast (Feststellungslast), wenn eine weitere Sachverhaltsaufklärung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ausscheidet, trägt das FA. Allerdings indiziert die Nichtentrichtung der einzubehaltenen LSt nach neuerer Auffassung des BFH das grobe Verschulden.
Auch wenn bei Nichtanmeldung der LSt durch den Arbeitgeber die Möglichkeit der Haftungsinanspruchnahme der unter §§ 34, 35 AO fallenden Personen besteht, kann das Finanzamt die LSt-Schuld durch einen Schätzungsbescheid festsetzen.
6.1 Ermessen
Rz. 22
Der Erlass des Haftungsbescheids und die Entscheidung der Frage, ob eine Inanspruchnahme für die volle Haftungsschuld geschehen soll, liegen im Ermessen der Finanzbehörde. Eine Rechtspflicht zur Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners besteht nicht. Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner. Grundsätzlich hat sich die Finanzbehörde zunächst an den Steuerschuldner zu halten, da der Haftungsschuldner nur für die Schuld des Steuerschuldners einzutreten hat. Das gilt, obwohl § 69 AO stets ein grobes Verschulden für die Pflichtwidrigkeit fordert. Eine Vorrangstellung für die Haftungsinanspruchnahme ("Vorprägung") kommt bei grober Fahrlässigkeit nach BFH v. 8.11.1988, VII R 141/85, BStBl II 1989, 219 grundsätzlich nicht in Betracht. Gegenüber dem nach § 75 AO Haftenden kann der Haftungsschuldner des § 69 AO allerdings vorrangig in Anspruch genommen werden, da § 75 AO kein Verschulden voraussetzt. Ein Vorrang der Inanspruchnahme nach § 69 AO ist allerdings im Gesetz nicht vorgesehen und auch bei Vorsatz nicht zwingend. Haftende nach § 69 AO und § 75 AO können auch nebeneinander in Anspruch genommen werden. Aber auch bei einer vorsätzlichen Pflichtverletzung ist die sofortige Inanspruchnahme des Haftenden ohne weitere Gründe und besondere Begründung nicht zulässig. Aus § 219 S. 1 AO folgt darüber hinaus, dass im Einzelfall der Erlass eines Haftungsbescheids schon zu einer Zeit zulässig ist, zu der die Erfolglosigkeit der Inanspruchnahme des Steuerschuldners noch nicht feststeht. Ist Steuerschuldnerin eine wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöschte GmbH gewesen, so hat das Finanzamt wegen des Fehlens eines Steuerschuldners den haftenden ehemaligen Geschäftsführer in Anspruch zu nehmen. Insoweit hat das FA keinen Ermessensspielraum mehr.
Rz. 22a
Eine Ermessensentscheidung (Auswahlermessen) ist ebenfalls zu treffen, wenn mehrere Haftungsschuldner in Betracht kommen. Sind z. B. mehrere Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder zusammen oder einzeln vertretungsberechtigt, so ist für die Auswahl des Haftungsschuldner...